Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit
an der Universität Hamburg herausgegeben
seit 2005 von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen
unter Mitarbeit von Sophie Fetthauer
seit Juli 2014 von Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen und Sophie Fetthauer
unter Mitarbeit von Nicole Ristow
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Georg Kinsky

geb. am 29. Sept. 1882 in Marienwerder (Westpreußen)/Kwidzyn, Deutschland/heute: Polen, gest. am 7. Apr. 1951 in Berlin, DDR, Musikwissenschaftler, Archivar, Dozent.

Biographie

Georg Kinsky wurde am 29. Sept. 1882 als zweiter von sechs Söhnen einer jüdischen Familie im westpreußischen Marienwerder geboren. Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr verbrachte er seine Kindheit und Jugend in diesem Ort und besuchte auch das dortige Königliche Gymnasium. Im April 1898 übersiedelte die Familie, die in Marienwerder seit 1874 ein Geschäft betrieben hatte, nach Berlin. Dort sammelte Kinsky erste berufliche Erfahrungen in Musikaliengeschäften, Antiquariaten und als Bibliothekar. In den Folgejahren gelang Kinsky, der wegen des Umzugs das Gymnasium ohne Abitur verlassen, nie eine Hochschule oder Universität besucht und sich nur autodidaktisch weitergebildet hatte, eine eindrucksvolle Karriere als Musikwissenschaftler und Archivar. Nachdem er im Anschluss an einen mehrmonatigen Aufenthalt in Leipzig 1908 eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an der Musikabteilung der Königlichen Bibliothek in Berlin angenommen hatte, wurde er bereits ein Jahr später auf Empfehlung von dessen Leiter Albert Kopfermann als Bibliothekar an das 1902 von dem Papiergroßhändler, Autographen- und Musikaliensammler und Mäzen Wilhelm Heyer gegründete und nach diesem benannte Musikhistorische Museum in Köln berufen. Kurz darauf übernahm er die Leitung dieser Institution. Großzügig unterstützt von Heyer, baute Kinsky das Museum in der Folge zu einer der führenden musikwissenschaftlichen Einrichtungen Deutschlands auf dem Gebiet der Instrumentenkunde aus, angeregt auch durch Besuche der einschlägigen Musikinstrumentensammlungen in Berlin, Brüssel, Paris, London und Florenz.

Unmittelbar nach seinem Dienstantritt in Köln begann Kinsky mit der Katalogisierung der Bestände des Museums. Die ab 1910 erschienenen drei Bände der Museumskataloge (ein vierter blieb unpubliziert) stießen nicht nur aufgrund ihrer hochwertigen bibliophilen Ausstattung, sondern vor allem auch aufgrund der detailgenauen, auf umfangreichen Quellenstudien basierenden Dokumentation Kinskys sowie der von ihm vorgenommenen kulturgeschichtlichen Kontextualisierungen der Objekte auch über Fachkreise hinaus auf überaus positive Resonanz und setzten für lange Zeit Maßstäbe auf dem Gebiet der Instrumentenkunde. Nicht zuletzt angeregt durch den Erfolg dieser Veröffentlichungen, entfaltete Kinsky in den Folgejahren eine ungemein produktive publizistische Tätigkeit, die einen ihrer Höhepunkte 1929 in der gemeinsam mit Robert Haas und Hans Schnoor erfolgenden Herausgabe des ebenfalls sehr populären und wegweisenden Bandes „Geschichte der Musik in Bildern“ kulminieren sollte. Schon ab 1921 hatte Kinsky an der Philosophischen Fakultät der Universität Köln, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1919 wiedereröffnet worden war, eine Dozentur für Notations- und Instrumentenkunde, Musikbibliographie und Editionstechnik übernommen. Dort zählte u. a. Herbert Eimert zu seinen Schülern (für eine Übersicht über seine Lehrveranstaltungen siehe VentzkeK 1987, S. 475). Im Dezember 1923 heiratete er Wilhelmine Franken.

Ab 1924 begann der Autodidakt Kinsky, wichtige Schul- und Studienabschlüsse nachzuholen. Zunächst legte er in Berlin die Begabten-Reifeprüfung ab, was ihm den Eintritt in eine Universität ermöglichte. Bereits im Februar 1925 erfolgte an der Universität Köln die Promotion zum Dr. phil. mit der Arbeit „Doppelrohrblattinstrumente mit Windkapsel. Ein Beitrag zur Geschichte der Blasinstrumente im 16. und 17. Jahrhundert“. 1926 gab es einen ersten schmerzlichen Einschnitt in Kinskys bis dahin so erfolgreicher Karriere. Nachdem der Financier des Kölner Musikhistorischen Museums Wilhelm Heyer bereits 1913 verstorben war, war die Frage der künftigen Trägerschaft des Museums, das u. a. auch als Veranstalter von historischen Konzerten (u. a. regelmäßig mit Wanda Landowska) im Kölner Musikleben eine zentrale Rolle gespielt hatte, lange Zeit unklar. Zähe Verhandlungen mit der Stadt Köln – von Seiten der Stadt u. a. mit Oberbürgermeister Konrad Adenauer als Gesprächspartner – blieben letztlich erfolglos. Im Mai 1926 wurde die Sammlung vom sächsischen Staat für das Musikwissenschaftliche Institut der Universität Leipzig erworben. Da in Leipzig schon anderes Personal zur Betreuung der Sammlung eingeplant war, wurde Kinsky zum Oktober 1926 arbeitslos. Eine feste Übernahme als Assistent blieb ihm, trotz seiner unbestrittenen Verdienste und Kompetenzen, an der Kölner Universität verwehrt, seine Unterrichtstätigkeit dort setzte er aber bis zum Sommersemester 1932 fort (KolbF 2012, S. 74-82). Kinsky verlegte sich notgedrungen auf eine freischaffende publizistische Tätigkeit sowie auch auf Vorträge bei der Westdeutschen Rundfunk AG in Köln.

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten änderte sich an Kinskys Lebensumständen anfangs wenig. 1935 nahm er die Arbeit an einem Verzeichnis der vollendeten Werke Ludwig van Beethovens auf, das erst nach seinem Tod abgeschlossen und von seinem Mitherausgeber Hans Halm 1955 publiziert wurde. Durch seine „Mischehe“ zunächst geschützt, wurde Kinsky 1942 zu Zwangsarbeit herangezogen, die er bei der in Köln ansässigen Geliermittelfabrik Opekta ableistete. Im Februar 1944 wurden er und seine Frau von der Gestapo im Zuge verschärfter Maßnahmen gegen „Mischehen“ aus ihrer Wohnung in Köln-Dellbrück ausgewiesen, was Kinsky dazu zwang, seine umfangreiche Bibliothek und Musiksammlung überstürzt zu verschleudern. Auch sein in jahrelanger akribischer Forschungsarbeit zusammengetragener Zettelkasten bzw. Handapparat fiel dieser Zwangsübersiedlung in eine Einzimmerwohnung zum Opfer. Im September 1944 erfolgte schließlich die Deportation in ein Barackenlager für „Mischehen“ in Köln-Müngersdorf; kurz darauf wurde Kinsky von seiner Frau getrennt und im Zuge der „Operation Todt“ in Thüringen zu Straßenbauarbeiten herangezogen, von denen er krankheitshalber allerdings bereits Ende Oktober wieder befreit wurde. Gesundheitlich stark angegriffen, entschlossen sich Kinsky und seine Frau im Dezember 1944 zur Übersiedlung nach Berlin, wo sie in einer Wohnlaube des Sohnes von Wilhelmine Kinsky aus erster Ehe Unterschlupf fanden und das Kriegsende überlebten. Drei seiner Brüder waren während der NS-Zeit aus Deutschland geflohen.

Unmittelbar nach Kriegsende konnten Kinsky und seine Frau in Berlin-Mahlsdorf eine Wohnung beziehen. Kinsky nahm die Arbeit an seinen verschiedenen Projekten, wie etwa dem Beethoven-Werkverzeichnis, wieder auf. Nachdem seine Frau 1946 in Berlin gestorben war und er berufliche Angebote aus München und Köln abgelehnt hatte, heiratete Kinsky im November 1947 erneut und blieb trotz beruflichen Angeboten aus Köln und München bis zu seinem Lebensende in Berlin. Einen Auftrag zur Katalogisierung der Musikautographen der Berliner Staatsbibliothek konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausführen.

Georg Kinsky starb am 7. Apr. 1951 in Berlin- Mahlsdorf in der DDR (VentzkeK 1982, S. 198).

Hauptquellen: VentzkeK 1982, VentzkeK 1987

Empfohlene Zitierweise
Matthias Pasdzierny: Georg Kinsky, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen, Sophie Fetthauer (Hg.), Hamburg: Universität Hamburg, 2017 (https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003546).

Georg Kinsky – Personendaten

Personendaten

Hauptname:Kinsky, Georg
Weitere Namen:Kinsky, Georg Ludwig
geboren:29. Sept. 1882 Marienwerder (Westpreußen)/Kwidzyn, Deutschland/heute: Polen
gestorben:7. Apr. 1951 Berlin, DDR/Deutschland
Mutter:Anna Kinsky, geb. Lippmann (geb. 1857, gest. 1921)
Vater:Max Kinsky (geb. 1850 Bischofsburg (Kreis Rössel), gest. 21. Aug. 1902 Berlin), Kaufmann
Geschwister:Erich Kinsky (geb. 1880), Exil in Äthiopien – Arthur Kinsky (geb. 28. Okt. 1884 Marienwerder (Westpreußen)), Exil in Shanghai, später in den USA (New York (NY)) – Walter Kinsky (geb. 1887 Marienwerder (Westpreußen), gest. 11. Okt. 1920 Berlin), Kaufmann – Helmut Kinsky (geb. 1891 Marienwerder (Westpreußen), gefallen 16. Nov. 1914 Scharnau) – Bruno Kinsky (geb. 23. Mai 1896 Marienwerder (Westpreußen), gest. 27. Mai 1977 Chicago (IL)), 1937 Exil in den USA (Chicago (IL))
Ehe/Partnerschaft:I. ∞ 19. Dez. 1923 Köln Wilhelmine Kinsky, geb. Franken, verw. Winkels (geb. 1879, gest. 1946), II. ∞ 27. Nov. 1947 Berlin Margarete Kinsky, geb. Weber (geb. 1895)
Muttersprache:Deutsch
Religionszugehörigkeit:deutsch
Grabstätte:Berlin-Mahlsdorf

Georg Kinsky – Berufe/Tätigkeiten

Berufe/Tätigkeiten

Überblick:Musikwissenschaftler, Archivar, Dozent
Anstellung/Mitwirkung/Gründung:
Bibliotheken/Archive/Museen
Berlin: Musikabteilung der Königlichen Bibliothek (1908-1909 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter), Köln: Musikhistorisches Museum Wilhelm Heyer Köln (1909-1926 Konservator, Leiter)
Hochschulen
Köln: Universität (1921-1932 Lehrbeauftragter)
Rundfunk/Fernsehen
Köln: Westdeutsche Rundfunk AG (1931-1932 freiberufliche Tätigkeit)
Mitgliedschaften:Deutsche Musikgesellschaft, Fürstliches Institut für musikwissenschaftliche Forschung zu Bückeburg, Société française de Musicologie
Titel/Auszeichnungen:
Akademische Titel
Dr. phil., Universität zu Köln, 1925

Georg Kinsky – Verfolgung/Exil

Verfolgung/Exil

Gründe:„rassische“ Verfolgung
Schlagwörter:Deportation, Juden, Organisation Todt, Zwangsarbeit
Inhaftierungsort:Barackenlager Köln-Müngersdorf
Stationen:
Juli 1942 bis September 1944
Zwangsarbeit als Flaschenspüler und -einsetzer in den Opekta-Werken Köln-Riehl
Februar 1944
Zwangsweiser Umzug in eine Einzimmerwohnung, notgedrungene Verschleuderung bzw. Vernichtung von Bibliothek, Musiksammlung und Handapparat
September 1944
Zunächst gemeinsam mit der Ehefrau Überführung in ein Barackenlager in Köln-Müngersdorf; kurz darauf Deportation nach Thüringen, um im Rahmen der „Organisation Todt“ als Zwangsarbeiter Straßenbauarbeiten durchzuführen, Ende Oktober Entlassung aus gesundheitlichen Gründen

Georg Kinsky – Werke

Werke

Schriften

Georg Kinsky verfasste diverse Monographien, zahlreiche Kataloge und Zeitschriftenartikel; eine detaillierte Aufstellung findet sich in <a href="https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmliterature_00010557" title="Verweis zur Quellenangabe von Schriftleitung/DreimüllerK 2003">Schriftleitung/DreimüllerK 2003</a>.

Noteneditionen

Herausgeber diverser Text- und Noteneditionen, u. a. ein Band mit Briefen von Christoph Willibald Gluck sowie Werkausgaben mit Kompositionen u. a. von Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Johann Sebastian Bach, vgl. <a href="https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmliterature_00010557" title="Verweis zur Quellenangabe von Schriftleitung/DreimüllerK 2003">Schriftleitung/DreimüllerK 2003</a>.

Georg Kinsky – Quellen

Quellen

Archive

UK KinskyG
Universität zu Köln, Archiv, http://www.uniarchiv.uni-koeln.de: enthält: Personalakte Georg Kinsky (Sign.: Zug. 17/2797).

NS-Publikationen

BrücknerH/RockCM 1938
Judentum und Musik – mit einem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, Hans Brückner, Christa Maria Rock (Hg.), 3. Aufl., München: Brückner, 1938 (1. Aufl. 1935, 2. Aufl. 1936, antisemitische Publikation).
StengelT/GerigkH 1941
Lexikon der Juden in der Musik. Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke. Zusammengestellt im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP auf Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen, Theo Stengel, Herbert Gerigk (Bearb.) (= Veröffentlichungen des Instituts der NSDAP zur Erforschung der Judenfrage, Bd. 2), Berlin: Bernhard Hahnefeld, 1941 (1. Aufl. 1940, antisemitische Publikation).

Literatur

KolbF 2012
Fabian Kolb: Das Musikhistorische Museum Wilhelm Heyer und sein Kurator Georg Kinsky im musikkulturellen Netzwerks Kölns der 1920er Jahre, in: Musikwissenschaft im Rheinland um 1930. Bericht über die Tagung der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte in Köln, September 2007, Klaus Pietschmann, Robert von Zahn (Hg.), Kassel: Merseburger, 2012, S. 11-92.
OttA 2001
Alfons Ott: Kinsky, Georg L(udwig), in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 13, Stanley Sadie, John Tyrrell, George Grove (Hg.), 2. erw. und verb. Aufl., London, New York: Macmillan, Grove, 2001, S. 614.
Riemann 1959-1967
Riemann Musik-Lexikon, 3 Bde., Wilibald Gurlitt (Hg.), 12. völlig neubearb. Aufl., Mainz: Schott, 1959-1967.
Riemann 1972-1975
Riemann-Musik-Lexikon, Ergänzungsbände, Carl Dahlhaus (Hg.), 12. völlig neubearb. Aufl., Mainz u. a.: Schott, 1972-1975.
Schriftleitung/DreimüllerK 2003
Schriftleitung, Karl Dreimüller: Kinsky, Georg Ludwig, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Personenteil, Bd. 10, Ludwig Finscher (Hg.), 2. überarb. Aufl., Kassel: Bärenreiter, 2003, Sp. 136-138.
VentzkeK 1982
Karl Ventzke: Georg Kinsky, 1882-1951. Zum Gedenken an seinen 100. Geburtstag, in: Tibia. Magazin für Freunde alter und neuer Bläsermusik, Jg. 7, H. 3, S. 197-198.
VentzkeK 1987
Karl Ventzke: Zur Biographie von Georg Kinsky 1992-1951, in: Studia Organologica. Festschrift John Henry van der Meer zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, Friedemann Hellwig (Hg.), Tutzing: Hans Schneider, 1987, S. 467-470.

Georg Kinsky – IDs

IDs

GND - Deutsche Nationalbibliothek
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Empfohlene Zitierweise
Matthias Pasdzierny: Georg Kinsky, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen, Sophie Fetthauer (Hg.), Hamburg: Universität Hamburg, 2017 (https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003546).

Matthias Pasdzierny (2017, aktualisiert am 24. Juli 2017)
https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003546