Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit
an der Universität Hamburg herausgegeben
seit 2005 von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen
unter Mitarbeit von Sophie Fetthauer
seit Juli 2014 von Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen und Sophie Fetthauer
unter Mitarbeit von Nicole Ristow
https://www.lexm.uni-hamburg.de/

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Kurt Sanderling

geb. am 19. Sept. 1912 in Arys (Ostpreußen)/Orzysz, Deutschland/heute: Polen, gest. am 18. Sept. 2011 in Berlin, Deutschland, Dirigent.

Biographie


Bildnachweis

Kurt Sanderling wurde am 19. Sept. 1912 im ostpreußischen Arys als Sohn des Sägewerkverwalters Ignaz Sanderling und seiner Frau Recha Sanderling geboren. Er besuchte eine Reformschule (die Freie Schulgemeinde in Wickersdorf im Thüringer Wald) sowie Gymnasien in Lyck und Königsberg. Nach Absolvierung eines Musikgymnasiums in Berlin und Privatunterricht bei dem Dirigenten Kurt Bendix wurde Kurt Sanderling 1931 mit 18 Jahren – ohne Hochschulausbildung – Korrepetitor an der Städtischen Oper Berlin. Nachdem er die Stellung wegen der NS-„Rassengesetze“ 1933 aufgeben musste, war er zunächst als Solokorrepetitor und Liedbegleiter für den Jüdischen Kulturbund tätig. Sanderling wurde am 17. Aug. 1935 aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen und mit Berufsverbot belegt. Ab dem 1. Sept. 1935 war er bei der Polizei „auf Reisen abgemeldet“ (BAB SanderlingK). 1936 nutzte er die Gelegenheit, über die Schweiz und die Tschechoslowakei, wohin sein Vater bereits 1934 geflohen war, zu seinem Onkel nach Moskau zu emigrieren, wohingegen seine Mutter 1938 nach London ging. Beim Moskauer Rundfunk erhielt Sanderling 1936 erste Aufgaben als Korrepetitor und später als Dirigent, bevor er 1937 (1939?) Chefdirigent der Staatlichen Philharmonie Charkow wurde. Sein Operndebüt gab er mit Wolfgang Amadé Mozarts „Entführung aus dem Serail“. Nach erneuter Flucht vor den einrückenden Nationalsozialisten Ende 1941 nach Alma-Ata begann Sanderling, als zweiter (Chef-)Dirigent neben Jewgeni Mrawinski die nach Nowosibirsk evakuierten Leningrader Philharmoniker zu leiten. Er übte dieses Amt bis 1960 aus. Daneben hatte Sanderling 1945/1946 eine Professur für Dirigieren am Leningrader Konservatorium inne. Es entstand eine Freundschaft mit Dmitri Schostakowitsch, der Sanderling 1952 vor einer Denunziation bewahrte, indem er sich bei Stalin persönlich für ihn einsetzte.

1960 wechselte Sanderling als Chefdirigent in die DDR an das Berliner Symphonie-Orchester, das er als eines der international führenden Orchester aufbauen sollte. Erst nach 16 Jahren verließ Sanderling das Berliner Symphonie-Orchester, um von 1977 an eine späte internationale Karriere als Gastdirigent vermehrt auch im Westen zu beginnen. Von 1964 bis 1967 war er zugleich Chefdirigent der Dresdner Staatskapelle. Seit dieser Zeit trat er unter anderem bei den Festivals in Prag, Salzburg, Wien und Warschau auf und dirigierte unter anderem das Leipziger Gewandhausorchester, das Philharmonia Orchestra, London, das Concertgebouw Orkest, Amsterdam, verschiedene deutsche Rundfunk-Sinfonieorchester sowie die Berliner und Münchner Philharmoniker. Auch in den USA arbeitete er mit allen namhaften Orchestern, darunter das Los Angeles Philharmonic Orchestra, das New York Philharmonic Orchestra, das Boston Symphony Orchestra, das Chicago Symphony Orchestra und das Cleveland Orchestra; weiterhin mit dem Orchester der Tonhalle Zürich, dem Orchestre de Paris, der Philharmonie Helsinki und dem Nippon Symphony Orchestra. 1992 wurde Sanderling (gemeinsam mit Günter Wand) mit dem Deutschen Kritikerpreis ausgezeichnet, 1994 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz und 1998 mit dem Cannes Classical Award. Am 19. Mai 2002 gab er sein Abschiedskonzert. Sanderling lebte bis zu seinem Tod am 18. Sept. 2011 in Berlin-Pankow.

Sanderlings Kernrepertoire ist über die Jahre fast gleich geblieben: neben den Haydn-, Beethoven- und Brahms-Symphonien dirigierte er vor allem Werke von Peter Tschaikowsky, Gustav Mahler, Jean Sibelius, Sergej Rachmaninov und besonders Dmitri Schostakowitsch. Immer wieder führte Sanderling in der Sowjetunion und in der DDR auch zeitgenössische Kompositionen nationaler Tonsetzer auf. Dieser Treue zum Staat ist es allerdings auch geschuldet, dass Sanderlings künstlerische Leistung im Westen lange nicht angemessen gewürdigt, sondern zunächst vielfach unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges rezipiert wurde. Sanderlings Diskographie (Roloff-MominU 2002, S. 399-421) belegt jedoch, dass dem Dirigenten eine höchst eindrucksvolle Leistung gelang. Sie umfasst Aufnahmen aus den Jahren 1955-2002 bei zahlreichen bedeutenden Labels, unter anderem Gustav Mahlers Symphonien Nr. 9, 10 und „Das Lied von der Erde“, sämtliche Symphonien von Jean Sibelius sowie die Symphonien Nr. 1, 5, 6, 8, 10 und 15 von Schostakowitsch, aber auch zeitgenössische Werke von Günter Kochan, Ernst Hermann Meyer, Allan Pettersson und Rudolf Wagner-Régeny. Sanderling hat die zu dirigierenden Stücke vielfach auch selbst bearbeitet, zumindest deren Instrumentierung – etwa im Fall der „Wassermusik“ von Georg Friedrich Händel oder der unvollendeten 10. Symphonie von Gustav Mahler (auf Basis der Fassung von Deryck Cooke (RothkammJ 2000, S. 142-147)). Dass Sanderling bei zeitgenössischen Werken Passagen gestrichen oder umgestellt hat, und die Komponisten (darunter Ernst Hermann Meyer) dies nachträglich guthießen, zeugt von seiner Überzeugungskraft, aber auch von seiner künstlerischen Kompetenz.

Hauptquellen: BitterlichH 1987, BarberC/BowenJ 2001a, Roloff-MominU 2002, JewanskiJ 2005

Empfohlene Zitierweise
Jörg Rothkamm: Kurt Sanderling, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen (Hg.), Hamburg: Universität Hamburg, 2007 (https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002180).

Kurt Sanderling – Personendaten

Personendaten

Hauptname:Sanderling, Kurt
geboren:19. Sept. 1912 Arys (Kreis Johannisburg, Ostpreußen)/heute: Orzysz (Woiwodschaft Ermland-Masuren), Polen/Deutschland
gestorben:18. Sept. 2011 Berlin, Deutschland
Mutter:Recha Sanderling (1893-1976), Hausfrau
Vater:Ignaz Sanderling (1879-1942), Sägewerkverwalter
Geschwister:
Ehe/Partnerschaft:I. ∞ 1941 Nina Schey, geb. Bobath (geb. 8. Apr. 1912); II. ∞ 1963 Barbara Sanderling (geb. 23. Jan. 1938 Leipzig, Deutschland), Kontrabassistin
Kinder:Thomas Sanderling (geb. 2. Okt. 1942 Nowosibirsk, UdSSR), Dirigent – Stefan Sanderling (geb. 2. Aug. 1964 Berlin, DDR), Dirigent – Michael Sanderling (geb. 21. Febr. 1967 Berlin, DDR), Cellist und Dirigent
Muttersprache:Deutsch
Religionszugehörigkeit:
Staatsangehörigkeit:deutsch, 1935 Ausbürgerung, 1939 sowjetisch, seit 1960 DDR-Bürger, seit 1989 BRD-Bürger
Aktueller Wohnsitz:Berlin

Kurt Sanderling – Berufe/Tätigkeiten

Berufe/Tätigkeiten

Überblick:Dirigent
Ausbildung/Studium:Wickersdorf (Thüringer Wald): Freie Schulgemeinde, Lyck (Ostpreußen): Gymnasium, Königsberg: Hufengymnasium, Berlin-Friedenau: Rheingau-Realgymnasium
Anstellung/Mitwirkung/Gründung:
Opernhäuser/Theater
Berlin: Städtische Oper
Orchester
Moskau: Orchester des Staatlichen Rundfunks?, Charkow: Staatliche Philharmonie, Leningrad: Philharmoniker, Berlin: Berliner Symphonie-Orchester, Dresden: Staatskapelle, Hamburg: NDR-Sinfonieorchester, Berlin: Deutsches Symphonie-Orchester (RSO); Berliner Philharmoniker, Köln: WDR-Sinfonieorchester, München: BR-Sinfonieorchester, Amsterdam: Kgl. Concertgebouw Orkest, London: Philharmonia Orchestra, Los Angeles Philharmonic Orchestra, New York Philharmonic Orchestra, Boston Symphony Orchestra, Chicago Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra, Zürich: Orchester der Tonhalle, Paris: Orchestre de Paris, Helsinki : Philharmonie, Japan: Nippon Symphony Orchestra
Festivals/Konzertreihen
Prager Frühling, Salzburger Festspiele, Wiener Festwochen, Warschauer Herbst, Berliner Festwochen
Hochschulen
Leningrad: Staatliches Konservatorium (Professor für Dirigieren)
Organisationen/Verbände
Berlin: Jüdischer Kulturbund (1934/1935 Solokorrepetitor, Begleiter)
Mitgliedschaften:Reichsmusikkammer (Mitgliedsnummer 1.569, 1935 Ausschluss), Kuratoriumsmitglied des Berliner Schauspielhauses (1994-1998)
Titel/Auszeichnungen:
Akademische Titel
Prof.
Künstlerische Titel
GMD
Auszeichnungen
1992 Deutscher Kritikerpreis, 1994 Großes Bundesverdienstkreuz, 1998 Cannes Classical Award u. a.

Kurt Sanderling – Verfolgung/Exil

Verfolgung/Exil

Gründe:„rassische“ Verfolgung
Schlagwörter:Ausbürgerung, Berufseinschränkung, Juden, Jüdischer Kulturbund, Reichskulturkammer, Remigration
Exilland:Schweiz, UdSSR
Stationen:
1933
Berufseinschränkung
17. Aug. 1935
Ausschluss aus der Reichsmusikkammer, Berufsverbot in Deutschland
ab 1. Sept. 1935 „auf Reisen abgemeldet“
Zwischenstationen Schweiz und Tschechoslowakei, Ausbürgerung
1936
Exil in der UdSSR
Nachkriegsexil:
1960
Übersiedlung in die DDR

Kurt Sanderling – Werke

Werke

Tonträger

Kurt Sanderlings Aufnahmen sind bei folgenden Labels erschienen: Eterna, VEB Deutsche Schallplatten Berlin, edel, harmonia mundi, Berlin Classics, Melodia, Denon, Forlane, Coronata Classic Collection, Tokuma, Teldec, Deutsche Grammophon, Sinsekai Records, Supraphon, RCA, Castle Communications, Capriccio, Philips, EMI und Laser Light.

Auswahl

  • „Legendary Recordings“, u. a. mit Symphonien von Alexander Borodin (2.), Anton Bruckner (3.), César Franck (d-Moll), Gustav Mahler (9., 10., Lied von der Erde), Jean Sibelius (1.-7. u. a.), Dmitri Schostakowitsch (1., 5., 6., 8., 15.), 16 CDs, edel classics 82124 02342, 2002.

Diskographie siehe in Roloff-MominU 2002, S. 399-421.

Film

  • Seine Liebe zu Brahms. Kurt Sanderling unterrichtet die 4. Sinfonie (mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR). Dokumentation, 60 Min., Ein Film von Norbert Beilharz, Erstausstrahlung: 2. Nov. 2003.

Kurt Sanderling – Quellen

Quellen

Archive

BAB SanderlingK
Bundesarchiv, Berlin, http://www.bundesarchiv.de/: enthält: Namensliste „nichtarischer“ Musiker mit Mitgliedsnummern in der RMK 1935 (Sign.: R 56 II/15), namentliche Erwähnung in der „Liste der aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossenen Juden, jüdischen Mischlinge und jüdisch Versippten“, Fünfter Teil, S-Z (Sign.: R 55/21303), Reichskulturkammerakte von Kurt Sanderling (Sign.: ehem. BDC, RK H 146, Bild-Nr. 2452-2470).
LAB SanderlingK
Landesarchiv Berlin, http://www.landesarchiv-berlin.de/: enthält: Statistik über „nichtarische“ Mitglieder in der Reichsmusikkammer vom 18. Juni 1934 mit Informationen zu Kurt Sanderling (Sign.: Landesleitung Berlin der RMK, A Rep. 243-01, Nr. 14, Mikrofilm Nr. B 3439).

NS-Publikationen

BrücknerH/RockCM 1938
Judentum und Musik – mit einem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, Hans Brückner, Christa Maria Rock (Hg.), 3. Aufl., München: Brückner, 1938 (1. Aufl. 1935, 2. Aufl. 1936, antisemitische Publikation).
StengelT/GerigkH 1941
Lexikon der Juden in der Musik. Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke. Zusammengestellt im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP auf Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen, Theo Stengel, Herbert Gerigk (Bearb.) (= Veröffentlichungen des Instituts der NSDAP zur Erforschung der Judenfrage, Bd. 2), Berlin: Bernhard Hahnefeld, 1941 (1. Aufl. 1940, antisemitische Publikation).

Literatur

BarberC/BowenJ 2001a
Charles Barber, José Bowen: Sanderling, Kurt, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Stanley Sadie, John Tyrrell, George Grove (Hg.), 2. erw. und verb. Aufl., London, New York: Macmillan, Grove, 2001, S. 231.
BitterlichH 1987
Hans Bitterlich: Kurt Sanderling, in: Für Sie porträtiert, Leipzig: VEB Deutscher Verlag, 1987.
BrachmannJ 2007
Jan Brachmann: Mein Schicksal ist gnädig gewesen. Der Dirigent Kurt Sanderling wurde am Mittwoch 95 Jahre alt. Im Gespräch erinnert er sich an Schostakowitsch, Stalin und das Leben als Jude in fünf deutschen Staaten, in: Berliner Zeitung, 22./23. Sept. 2007 (http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2007/0922/magazin/0001/).
JewanskiJ 2005
Jörg Jewanski: Sanderling, Kurt, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Bd. 14, Ludwig Finscher (Hg.), 2. überarb. Aufl., Kassel: Bärenreiter, 2005, Sp. 918-919.
Roloff-MominU 2002
„Andere machten Geschichte, ich machte Musik.“ Die Lebensgeschichte des Dirigenten Kurt Sanderling in Gesprächen und Dokumenten, Ulrich Roloff-Momin (Hg.), Berlin: Parthas, 2002.
RothkammJ 2000
Jörg Rothkamm: Berthold Goldschmidt und Gustav Mahler. Zur Entstehung von Deryck Cookes Konzertfassung der X. Symphonie (= Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, Bd. 6, Hanns-Werner Heister, Peter Petersen (Hg.)), Hamburg: von Bockel, 2000.
RothkammJ 2003
Jörg Rothkamm: Ulrich Roloff-Momin (Hg.): „Andere machten Geschichte, ich machte Musik.“ Die Lebensgeschichte des Dirigenten Kurt Sanderling in Gesprächen und Dokumenten. Parthas, Berlin 2002 [Rezension], in: Das Orchester, 51, H. 4, Ulrich Roloff-Momin (Hg.), 2003, S. 89.
StomporS 2001
Stephan Stompor: Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS-Staat (= Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik, Bd. 6, Andor Izsák (Hg.)), Hannover: Europäisches Zentrum für jüdische Musik, 2001.

Kurt Sanderling – IDs

IDs

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Empfohlene Zitierweise
Jörg Rothkamm: Kurt Sanderling, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen (Hg.), Hamburg: Universität Hamburg, 2007 (https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002180).

Jörg Rothkamm (2007, aktualisiert am 12. Dez. 2018)
https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002180