Österreichisches Biographisches Lexikon

Biographie des Monats

Eduard Sueß – zwischen Naturwissenschaft und Politik

Vor 100 Jahren, am 26. April 1914, verstarb mit Eduard (Carl Adolph) Sueß eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der österreichischen Naturwissenschaften. Sueß revolutionierte ab den 1850er-Jahren die österreichischen Erdwissenschaften, die er in wenigen Jahrzehnten an die europäische Spitze führte. Neben seiner Tätigkeit als Geowissenschafter war Sueß auch an Großprojekten wie der Wiener Hochquellenwasserleitung und der Donauregulierung führend beteiligt. Sein Engagement für die Wasserversorgung der Großstadt wurde jedoch äußerst kontroversiell aufgenommen, was ihm bei seinen Gegnern den nicht eben schmeichelhaften Beinamen „Wasserer“ eintrug. Große Verdienste erwarb sich Sueß als liberaler Politiker bei der Umsetzung des Reichsvolksschulgesetzes sowie als langjähriger Präsident (1898-1911) der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, die unter seiner Führung zu einer wissenschaftlichen Institution von Weltgeltung aufstieg.

 

Kindheit und Jugend

Eduard Sueß wurde am 20. August 1831 als Sohn des Adolph Sueß (1797-1862), der seit 1828 in London ein Wollgeschäft führte, und von dessen Gemahlin Eleonore (1807-1881), geb. Zdekauer, einer Bankierstochter, in der englischen Hauptstadt geboren. Bereits 1834 zog die Familie nach Prag um, wo die Angehörigen der Mutter lebten. Sueß besuchte fünf Jahre lang das Clementinum in Prag, das er 1845 verließ, um mit seiner Familie nach Wien zu übersiedeln. 1846 schloss er seine Schulausbildung am Akademischen Gymnasium ab und begann sein Studium am Wiener polytechnischen Institut. Im Revolutionsjahr 1848 schloss sich der 16jährige, erfüllt von jugendlichem Enthusiasmus, den Revolutionären an und trat der Akademischen Legion bei.

 

Paläontologie

Im Oktober 1848 verließ Sueß das unruhige Wien und ging nach Prag, um am dortigen Polytechnikum sein Studium fortzusetzen. Häufige Besuche des Prager Nationalmuseums und Exkursionen in das fossilreiche Umland der Stadt weckten in ihm das Interesse für die Paläontologie, eine Neigung, die ihn bis ins hohe Alter nicht mehr loslassen sollte. 1849 nach Wien zurückgekehrt, widmete sich Sueß einer Studie über die Graptolithen des böhmischen Silur, die 1851 als seine erste wissenschaftliche Arbeit erschien. Sueß‘ Eintritt in die Welt der Wissenschaft gestaltete sich nicht eben freundlich. Joachim Barrande, der zu dieser Zeit gerade die paläozoischen Faunen Böhmens bearbeitete und diesen Bereich paläontologischer Forschung gewissermaßen als sein „Revier“ ansah, betrachtete die Publikation des jungen Mannes als Eingriff in seine Rechte. 1852 rezensierte er Sueß‘ Arbeit vernichtend.

Im Dezember 1851 wurde Sueß gemeinsam mit anderen Assistenten und Studenten des polytechnischen Instituts wegen angeblicher Teilnahme an einer von Lajos Kossuth von Udvard und Kossut angezettelten Verschwörung festgenommen, bald jedoch wegen Beweismangels freigelassen. Die Studien am polytechnischen Institut setzte er nicht mehr fort. Hingegen wandte er sich umso eifriger der Paläontologie zu. 1852 wurde Sueß Assistent am Hof-Mineralien-Cabinett, wo er sich als erster österreichischer Forscher mit der Klassifikation fossiler Säugetiere befasste.

Durch seine Forschungen in wenigen Jahren zu Berühmtheit gelangt, suchte er 1857 um die Venia legendi für Paläontologie an der Universität Wien an. Die philosophische Fakultät wies den Antrag wegen des fehlenden Doktorats und eines angeblichen Bedarfsmangels zurück. Eine Immediateingabe bei Leo Graf von Thun und Hohenstein, Minister für Kultus und Unterricht, verlief erfolgreich. Thun beantragte beim Kaiser erfolgreich die Ernennung von Sueß zum außerordentlichen, unbesoldeten Professor für Paläontologie. Damit war 1857 de facto die erste Lehrkanzel für dieses Fach an einer österreichischen Universität geschaffen worden.

 

Geologie und die Innovationen in Wien

1862 verließ Sueß das Hof-Mineralien-Cabinett und ging als außerordentlicher besoldeter Professor für Geologie an die Universität Wien, wo er, 1867 zum Ordinarius ernannt, bis zu seiner Emeritierung 1901 wissenschaftlich tätig war.

In den 1860er-Jahren arbeitete Sueß an der Erforschung der geologischen Verhältnisse Wiens. Sein Hauptaugenmerk lenkte er auf die damals virulente Frage der Wasserversorgung der Großstadt. Die Wiener Haushalte bezogen um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Wasser aus etwa 10.000 Hausbrunnen und aus einigen kleinen Wasserleitungen. In manchen Stadtteilen, wie etwa in Matzleinsdorf, wo die Bewohner mit dem Wasser der Siebenbrunner Wasserleitung versorgt wurden, das mit Leichengift des Matzleinsdorfer Friedhofs kontaminiert war, war die Situation besonders prekär. Um diese katastrophalen hygienischen Zustände zu verbessern, bildete die Stadt Wien eine zwölfköpfige Wasserversorgungskommission, der seit dem März 1863 auch Sueß angehörte. Trotz zahlreicher Widerstände konnte 1870 mit dem Bau der Ersten Wiener Hochquellenwasserleitung begonnen werden. Das Wasser bezog man aus den Kalkalpen im niederösterreichisch-steirischen Grenzgebiet. Am 24. Oktober 1873 fand die feierliche Eröffnung beim Hochstrahlbrunnen am Schwarzenbergplatz in Wien statt.

Als zweites Projekt der praktischen Geologie betrieb Sueß die Regulierung der Donau. Zahlreiche Überschwemmungen hatten den Wiener Gemeinderat bewogen, sich ab 1863 diesem Problem zuzuwenden. 1867 kam es zur Bildung einer Donauregulierungskommission, der auch Sueß angehörte. Nach langwierigen Verhandlungen entschied man sich für die Schaffung eines neuen Strombetts, das nach fünfjähriger Bauzeit am 19. April 1875 in Betrieb ging.

Nach seiner Tätigkeit für die Stadt Wien wandte sich Sueß vermehrt wissenschaftlichen Forschungen zu. 1875 legte er in seiner Studie „Die Entstehung der Alpen“ auf nur 168 Seiten seine für die damalige Zeit revolutionäre Sicht der Entstehung der Kettengebirge dar und erarbeitete somit wesentliche Elemente der Deckenlehre. In seinem vierbändigen Werk „Das Antlitz der Erde“ (1883-1909) hat Sueß die Gesetzmäßigkeiten, die er in den europäischen Kettengebirgen erkannt hatte, erweitert und auf das Werden und die Bildungsweise unseres gesamten Planeten ausgedehnt: Sueß gibt eine Gesamtschau über die altersmäßige Gliederung der Kettengebirge, die Abgrenzung der Kontinentalschollen, die großen Ausbreitungen und Rückzüge der Meere, die Bewegungen der Erdkruste im Allgemeinen und schließlich über die regionale Geologie der Erde überhaupt. Das Interesse an diesem monumentalen Werk war so groß, dass es in französischer (1897-1918) und englischer (1904-1924) Sprache veröffentlicht wurde.

Im „Antlitz der Erde“ prägte Sueß erstmals den Begriff Tethys, womit er jenen Urozean, der einst die Urkontinente Laurasia und Gondwana voneinander trennte, bezeichnete. Aus dem ihm bekannten Fossilienmaterial erkannte er biogeographische Fakten, die ihn zur Annahme des südlichen Urkontinents Gondwana veranlassten. Des Weiteren war Sueß bestrebt, eine Korrelation zwischen Gebirgsbildungsepisoden und Meereszyklen herzustellen, indem er nach stratigraphischen Zeugnissen auf der Grundlage von Fossilien und deren geographischer Verbreitung suchte. In seinem Versuch, Tektonik und Stratigraphie zu verbinden, führte er 1888 den neuen Begriff „Eustatische Bewegung“ (Eigenschwankung der Meeresspiegel) ein, der noch heute im geowissenschaftlichen Diskurs in Gebrauch steht. Ebenso führte er die Begriffe „Biosphäre“, „Lithosphäre“ und „Hydrosphäre“ in die Geowissenschaften ein. Generell hat Sueß’ Wirken die methodische Sichtweise in den Geowissenschaften gleichsam revolutioniert: Aus der auf purer Klassifikation des Beobachteten fußenden Geognosie wurde die mit kritisch-rationaler Denkweise operierende und die historische Dimension der Erdentwicklung berücksichtigende moderne Geologie. Im Bereich der Methodik ist die von Sueß begründete Wiener Schule der Geologie und Paläontologie durch die Kombination von sorgsamer Detailstudie und vergleichender Betrachtungsweise zu höchstem internationalen Ansehen gelangt.

 

Politik

Neben Sueß’ wissenschaftlicher Tätigkeit verdient auch sein politisches Wirken als liberaler Volksvertreter, der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Akzente zu setzen wusste, Beachtung. Sueß’ politische Laufbahn begann mit dem bereits erwähnten Projekt der Wiener Hochquellenwasserleitung und führte über die Wasserversorgungskommission der Stadt Wien in den damals 120köpfigen Wiener Gemeinderat. Er schloss sich der vom damaligen Wiener Vizebürgermeister Cajetan Frh. von Felder begründeten Mittelpartei an, die liberale Zielsetzungen vertrat. Nach seinem Ausscheiden aus dem Gemeinderat im Frühjahr 1873 wurde Sueß in seinem Wohn- und Wahlbezirk Leopoldstadt in das Abgeordnetenhaus des Reichsrates entsandt, wo er sein Mandat erst 1897 niederlegte.

1869 war der Geologe auch in den niederösterreichischen Landtag gewählt worden, in dem er bis 1873 verblieb. In diesem Gremium trat er für das 1869 verabschiedete umstrittene Reichsvolksschulgesetz ein, das die interkonfessionelle Schule ermöglichte und damit den Einfluss der katholischen Kirche auf den Unterricht und die Auswahl des Lehrpersonals zugunsten staatlicher Schulaufsicht beendete. Tatsächlich gelang es Sueß, der ab 1870 als Landesrat für die Referate Archive, Bibliotheken, Stiftungen, Donauregulierungs-angelegenheiten und für den Schulbereich tätig war, das besagte Gesetz gegen den Widerstand klerikaler Kreise umzusetzen.

In den späten 1880er-Jahren musste Sueß eine große persönliche Enttäuschung hinnehmen. Aufgrund jüdischer Vorfahren seiner Mutter war er bereits seit Beginn der 1880er-Jahre als politischer Mandatar antisemitischen Anwürfen ausgesetzt gewesen. Als er am 21. September 1888 zum Rektor der Alma Mater Rudolphina gewählt worden war, vermochte Sueß den permanenten Attacken antisemitischer deutscher Burschenschaften, die bereits seine Inauguration boykottiert hatten, auf Dauer nicht standzuhalten. Er legte nur wenige Monate nach Amtsantritt das Rektorat im März 1889 nieder.

 

Sueß und die wissenschaftlichen Institutionen

Aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen war Eduard Sueß Mitglied zahlreicher in- und ausländischer Wissenschaftsinstitutionen. So wurde er schon früh zum Mitglied der Deutschen Geologischen Gesellschaft in Berlin, der British Palaeontographical Society in London sowie der Société Linnéenne de Normandie in Caen gewählt. 1860 wurde er korrespondierendes, 1867 wirkliches Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien und gehörte ab 1885 zu den führenden Funktionären, zunächst als Sekretär der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, ab 1891 als Generalsekretär, ab 1893 als Vizepräsident und von 1898 bis 1911 als Präsident. In Sueß’ Amtszeit fiel u. a. die Gründung des Instituts für Radiumforschung (1910), das sich ausschließlich der Erforschung der Radioaktivität widmen sollte. Das in dieser Hinsicht weltweit erste Institut, 1954 in „Institut für Radiumforschung und Kernphysik“ umbenannt und seit 1975 der Universität Wien zugehörig, ist von Beginn an in seiner großen Bedeutung für die Naturwissenschaften von Eduard Sueß richtig eingeschätzt und gefördert worden. Eduard Sueß starb am 26. April 1914 in Wien. Sein Grabmal befindet sich am Friedhof von Marz (Burgenland), wo bis heute ein Sommerdomizil der Familie existiert.

 

 

 

Weitere Werke (Auswahl): Über böhmische Graptolithen, in: Naturwissenschaftliche Abhandlungen 4, 1851; Thomas Davidson, Classification der Brachiopoden. Nach der englischen Ausgabe … deutsch bearbeitet und mit einigen neuen Zusätzen versehen von Eduard Sueß, 1856; Die Brachiopoden der Stramberger Schichten, in: Beiträge zur Palaeontographie von Österreich 1, 1858; Der Boden der Stadt Wien nach seiner Bildungsweise, Beschaffenheit und seinen Beziehungen zum bürgerlichen Leben. Eine geologische Studie, 1862; Abschieds-Vorlesung des Professors Eduard Sueß bei seinem Rücktritte vom Lehramte, in: Beiträge zur Paläontologie und Geologie Österreich-Ungarns und des Orients 14, 1902, H. 1.

Literatur (Auswahl): Neue Freie Presse, 27. 4. 1914; Friedrich Becke, in: Almanach der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien 64, 1914, S. 356-362 (m. B.); Erinnerungen, ed. Erhard Sueß, 1916 (m. B.); Ernst Plener, Eduard Sueß, in: Neue Österreichische Biographie 1, 1923, S. 70-77 (m. B.); Alexander Tollmann - Edith Kristan-Tollmann, Eduard Sueß – Forscher und Politiker …, 1981 (m. B.); Eduard Sueß zum Gedenken …, ed. Günther Hamann, 1983 (m. B.); Tillfried Cernajsek u. a., Eduard Sueß (1831-1914) – ein Geologe und Politiker des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaft und Forschung in Österreich. Exemplarische Leistungen österreichischer Naturforscher, Techniker und Mediziner, ed. Gerhard Heindl, 2000, S. 59-84, 268-270 (m. B. u. Werksverzeichnis); Johannes Seidl, Die Verleihung der außerordentlichen Professur für Paläontologie an Eduard Sueß im Jahre 1857. Zur Frühgeschichte der Geowissenschaften an der Universität Wien, in: Wiener Geschichtsblätter 57, 2002, S. 38-61; ders., Eduard Suess (1831–1914). Aperçu biographique. Avec une annexe par Michel Durand-Delga, in: Travaux du Comité Français d’Histoire de la Géologie, 3è série, tome 18, 2004, S. 133-146; Michel Durand-Delga - Johannes Seidl, Eduard Suess (1831 – 1914) et sa fresque mondiale « La Face de la Terre », deuxième tentative de Tectonique globale, in: Géoscience. Comptes-Rendus, Académie des Sciences, 2007, S. 85-99; Vladimir A. Obručev - M. Zotina, Eduard Sueß 1937, ed. Tillfried Cernajsek - Johannes Seidl, übersetzt von Barbara Steininger (= Berichte der Geologischen Bundesanstalt 63), 2009 (m. B.); Eduard Suess und die Entwicklung der Erdwissenschaften zwischen Biedermeier und Sezession, ed. Johannes Seidl, 2009 (m. B.); Allgemeines Verwaltungsarchiv, Archiv der Technischen Universität, Universitätsarchiv, Wiener Stadt- und Landesarchiv, alle Wien, Niederösterreichisches Landesarchiv, St. Pölten, Niederösterreich; Privatarchiv Wolfgang Gasche, Wien, Zürich, CH.

(Johannes Seidl)


Wir danken Herrn Dipl.-Ing. Wolfgang Gasche, Herrn Univ.-Doz. Dr. Johannes Seidl sowie dem Universitätsarchiv Wien für die Zurverfügungstellung von Bildmaterial.