Institut Österreichisches Biographisches Lexikon
und biographische Dokumentation

Biographie des Monats

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Jura Soyfer – Ein politischer Künstler in der Globalisierung.

Jura (Juri) Soyfer wurde vor hundert Jahren – am 8. Dezember 1912 – in eine Welt der Urbanisierung, der Internationalisierung der Informationen (Telegraph, Radio, Film), der globalisierten Gewalt (darunter: Erster, Zweiter Weltkrieg) hineingeboren. Mit 26 Jahren verstarb der Schriftsteller am 16. Februar 1939 im Konzentrationslager Buchenwald an Typhus. Heute ist sein Werk in über 50 Sprachen übersetzt. Seine Lebendigkeit zeigt sich in Publikationen, Theateraufführungen, Hörspielen, Filmen, Internet-Kunstwerken, Forschungen, einer vielsprachigen eigenen Homepage – einer neuen Öffentlichkeit –, weltweit.

 

Von Kharkov nach Wien

Bereits Jura Soyfers Kindheit war durch vielfältige Weltzugänge gekennzeichnet. Er wuchs in Kharkov (Charkiv) auf, einer Stadt, die gegen Ende des 19., am Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Kleinstadt zu einer Metropole herangewachsen war. Auch Soyfers Eltern waren Migranten. Sie zogen nach Kharkov und wurden wohlhabend. Sein Vater Wladimir war Kaufmann, seine Mutter Ljobow eine Salon-Dame. Die Sprache der Familie war Russisch, aber durch das Kindermädchen lernte Jura Soyfer Französisch und schrieb nach Zeitzeugenberichten seine ersten Gedichte in dieser Sprache.

Der Name Soyfer geht im Selbstverständnis auf das hebräische Wort „Sofer“ – Schreiber, Schriftgelehrter, Kundiger der Thora – zurück. Die Familie war laizistisch, aber sie wurde von den antisemitischen Pogromen in Kharkov nach der Erinnerung von Zeitzeugen mehr bedroht denn durch die Revolutionäre, die von einer „gemischten Wirtschaft“ Erholung erwarteten. Gefahr ging für die Familie vielmehr vom Krieg aus.

Die Familie Soyfer floh 1920 über Konstantinopel (Istanbul) nach Wien (Meldeauskunft des Wr. Stadt- und Landesarchivs). Da ein Antrag auf die Staatsbürgerschaft seinerzeit nicht in Wien erfolgen konnte, zog die Familie vorübergehend in eine Villa in der Strassergasse 13 in Baden bei Wien. Die Staatsbürgerschaft erhielt sie 1926. In Wien, wohin die Soyfers 1921 umgesiedelt waren, verarmten sie und blieben ihren Kreisen verbunden – darunter der Familie Rapoport aus Odessa. Samuel Mitja Rapoport wurde Soyfers bester Freund.

 

Bildung in Zeiten politischer Polarisierung

Jura Soyfer besuchte das Gymnasium in der Hagenmüllergasse im 3. Bezirk (Landstraße), wo er 1931 auch maturierte. Danach studierte er von 1931 bis 1935 an der Universität Wien Deutsch und Geschichte. Antisemitisch und faschistisch motivierte Prügeleien waren dort an der Tagesordnung. Am Institut für Germanistik, wo Soyfer Vorlesungen besuchte, lehrte der Nationalsozialist Josef Nadler, der sich mit seiner politischen Gesinnung bis 1938 zurückhielt, um in der Zeit des Austrofaschismus einträgliche Funktionen einzunehmen.

Wien – wie ganz Österreich – war in der damaligen Zeit nicht nur politisch polarisiert, sondern die unterschiedlichen Gruppierungen standen sich auch bewaffnet gegenüber. Der Konflikt gipfelte in der Ausschaltung des österreichischen Parlaments 1933 sowie der militärischen Zerschlagung der Arbeiterbewegung im Februar 1934 und schließlich im Verlust der Unabhängigkeit Österreichs 1938. Soyfer hat in seinem Roman „So starb eine Partei“ die Hintergründe dafür seit dem 19. Jahrhundert dargestellt. Bisher wurden lediglich Fragmente dieses Romans gefunden, eine Passage konnte man aus dem Englischen rückübersetzen.

 

Dichtung in Zeiten der Gewalt

In dieser Zeit der Gewalt schwieg Soyfer nicht. Er trat dem Verband Sozialistischer Mittelschüler bei, engagierte sich dort bei den 18ern und begann für die Schülerzeitschrift sowie das „Politische Kabarett“ der Sozialdemokratie zu schreiben. Bereits Anfang der 1930er-Jahre erreichte Soyfer mit seinen Gedichten, die in der „Arbeiter-Zeitung“ – Auflagen bis zu 700.000 – abgedruckt wurden, ein Massenpublikum, und bereits zu seinen Lebzeiten begann die weltweite Verbreitung seiner Texte: der Nachdruck von 15 Gedichten in der saarländischen Tageszeitung „Deutsche Freiheit“ 1933 und 1934 (das Saarland war zu dieser Zeit noch unter dem Mandat des Völkerbundes), die Aufführung des Stückes „Pinguine“ in Budapest, Veröffentlichung von übersetzten Texten in der Zeitschrift „New Writing“, die von John Lehmann in London herausgegeben wurde. Der Roman „So starb eine Partei“ sollte in Prag erscheinen.

 

Es sind auch solche Erfahrungen als Subjekt in der Globalisierung, die seine Gedichte bestimmen:

Von den neunundneunzig Rändern

Dieser kugelrunden Erde

Flitzen flink aus tausend Sendern

Die Berichte. –

Durch die zarten, blitzend harten

Kupfernerven dieser Erde

Surrt die Weltgeschichte.

Es ist eine Weltgeschichte, die Jura Soyfer nicht nur aus den Nachrichten, durch Begegnungen, durch seine Korrespondenz kannte. Er selbst unternahm 1932 eine Tour durch Deutschland. Neun Reportagen über diese Reise wurden abgedruckt. Aber auch Reisen durch Österreich, nach Jugoslawien und in die Tschechoslowakei sind dokumentiert.

 

Bürgerkrieg, Zensur und künstlerischer Widerstand

Deutschland ist 1932 ein Land großer politischer Unruhe, in dem bereits vor der Errichtung des nationalsozialistischen Staates Tausende ums Leben kamen. In einem Großteil der rund 150 Gedichte Jura Soyfers aus diesen Jahren wird Hitler erwähnt oder steht im Mittelpunkt. In einem Gedicht aus 1933 wird bereits das Konzentrationslager Dachau als Ort des Terrors thematisiert.

Die wichtigsten Soyfer’schen Texte – von denen ebenfalls nur ein Teil erhalten geblieben ist – entstanden in der Zeit der Diktatur in Österreich. Jura Soyfer war gerade 21 Jahre alt, als er öffentlich gegen die austrofaschistische Zensur in der Tageszeitung „Der Wiener Tag“ Stellung nahm.

Die auch in der heutigen Öffentlichkeit – neben einigen Gedichten – als bedeutend wahrgenommenen Texte sind seine Dramen und der Roman „So starb eine Partei“. Vor allem Die Stücke und seine Lieder wurden und werden weltweit rezipiert. Bereits in den 1940er-Jahren brachten Künstler wie Otto Tausig oder Alfredo Bauer sie auf die Bühnen in London, New York oder Buenos Aires. 1992 wurden die Aufführungen in Österreich und weltweit erstmals in der Ausstellung „Jura Soyfer und Theater“ dokumentiert und analysiert. Bis Anfang der 1990er-Jahre gab es Übersetzungen in mehr als ein Dutzend Sprachen, aber auch als Hörspiele und in Form von Filmen konnte Soyfers Werk an eine breite Öffentlichkeit gebracht werden.

 

Verhaftungen und Konzentrationslager

Bereits 1937 begann für Jura Soyfer der Weg in den Tod mit der Verhaftung am 17. November durch die austrofaschistische Polizei, die zuvor seine Wohnung durchsucht und Manuskripte bzw. Texte beschlagnahmt hatte, die heute alle nicht mehr erhalten sind. Jura Soyfer war nicht nur in der Öffentlichkeit (Kellertheater, Zeitungen etc.) aktiv gewesen, sondern seit 1934 auch im verbotenen kommunistischen Widerstand. Am 17. Februar 1938 kam Jura Soyfer im Zuge einer Generalamnestie für politische Häftlinge nach drei Monaten wieder frei.

Nachdem sie die Rede von Schuschnigg am 11.3.1938 im Radio gehört hatten, versuchten Jura Soyfer und sein Freund Hugo Ebner auf Schiern in die rettende Schweiz zu gelangen. In der Nacht auf den 13. März fuhren sie zuerst mit dem Nachtzug von Wien nach Bludenz und anschließend mit dem Postbus in die Berge. Die Grenzen waren bereits abgeriegelt und die regulären Grenzpatrouillen erhielten durch Mannschaften aus Innsbruck und Salzburg sowie durch SA und SS Verstärkung. Jura Soyfer wurde nach seiner Verhaftung am 13. März 1938 über den Gemeindekotter in Gargellen sowie die Gefängnisse in Bludenz, Feldkirch und Innsbruck im Juni 1938 unter unmenschlichen Bedingungen ins Konzentrationslager Dachau und von dort im September 1938 nach Buchenwald transportiert.

 

„Dachaulied“

Selbst „Vor der Mündung der Gewehre“ schrieb Jura Soyfer seine Texte, um die Kameraden aufzumuntern. Lachen ist eine Waffe gegen die Herrschaft, gegen den Terror. Nicht erhalten geblieben sind die Sketches, aber das „Dachaulied“, das Herbert Zipper vertonte. Auch dieses Lied ist ein Dokument dafür, dass Jura Soyfer sich weiterhin als Individuum, als handelndes Subjekt verstand, das Möglichkeiten sieht, die Welt zum Positiven zu verändern. In seinem „Dachaulied“ heißt es:

 

Hell wird uns die Freiheit lachen,

Schaffen heißt’s mit großem Mut.

Und die Arbeit, die wir machen,

Diese Arbeit, sie wird gut.

Die Noten zum "Dachaulied" (© Jura Soyfer-Gesellschaft, Wien)

 

Die Lebendigkeit Jura Soyfers

Viele haben sich Verdienste um das Andenken an Jura Soyfer erworben; darunter alle jene, die – wie Helli Ultmann (später Andis) – Manuskripte retteten, oder Otto Tausig und Herbert Steiner, die bereits im Londoner Exil seine Texte sammelten und sich ein Leben lang für Soyfer engagierten. 1947 brachte Tausig die erste Ausgabe von Soyfers Texten in Wien heraus, 1964 Walter Czollek, der wie Jura Soyfer Häftling im Konzentrationslager Buchenwald war, und 1980 Horst Jarka – unterstützt von vielen – das „Gesamtwerk“ und in Zusammenarbeit mit nicht Wenigen weitere Ausgaben.

Im Jahr seines 100. Geburtstages erscheint die „Jura Soyfer Edition 2012“, die auf der Basis jahrzehntelanger Analysen und künstlerischer Auseinandersetzungen die sprachlichen und literarischen Qualitäten neu zugänglich macht und von der Jura Soyfer-Gesellschaft herausgegeben wird. Wie im Fall des „Vagabundenlieds“, das in 34 Sprachen übersetzt wurde, geht es auch hier um die Herausarbeitung des Verbindenden der Kulturen im Werk von Jura Soyfer.

Jubiläumsausgaben 2012

 

W.: http://www.soyfer.at/deutsch/buchausgaben.htm.

L.: http://www.soyfer.at/deutsch/sekundaerliteratur.htm.

(Herbert Arlt)