Institut Österreichisches Biographisches Lexikon
und biographische Dokumentation

Biographie des Monats

Erwin Stransky: Mitbegründer der modernen Schizophrenielehre

Erwin Stransky gilt als Nestor der österreichischen Neurologie und Psychiatrie und reiht sich in die Liste bedeutender österreichischer Neurowissenschaftler wie Theodor Meynert, Heinrich Obersteiner, Sigmund Freud, Constantin Freiherr Economo von San Serff (Konstantin Frh. von Economo), Julius Wagner-Jauregg, Otto Marburg und Otto Pötzl, um nur einige wenige zu nennen, ein. Am 26. Jänner 2012 jährt sich sein 50. Todestag.

 

In den Fußstapfen von Julius Wagner-Jauregg

Erwin Stransky erblickte am 3. Juli 1877 als Sohn des jüdischen Fabrikanten Moritz Stransky und dessen Gattin Mathilde, geborene Schönauer, in Wien das Licht der Welt. Von 1886 bis 1894 besuchte er das Communal-, Real- und Obergymnasium in Wien Leopoldstadt, das heutige Sigmund Freud-Gymnasium, wo er Anfang Juli 1894 mit Auszeichnung maturierte. Anschließend studierte er Medizin an der Universität Wien, gerade in einer Zeit, als die Zweite Wiener Medizinische Schule ihren Höhepunkt erlebte. Bereits während des Studiums erkannte Stransky sein Interesse für Neurologie und Psychiatrie und vervollkommnete seine Ausbildung an den Instituten von Heinrich Obersteiner und Lothar von Frankl-Hochwart sowie bei Hermann Nothnagel. 1900 wurde er zum Dr. med. promoviert. Stransky wirkte zunächst als Aspirant im Wiener Allgemeinen Krankenhaus und trat 1901 in die I. Psychiatrische Universitätsklinik unter Julius Wagner-Jauregg ein. Daneben fungierte er ab 1906 als ständig vereidigter psychiatrischer Sachverständiger beim Handelsgericht in Wien. 1908 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Dementia praecox an der Universität Wien für Psychiatrie und Neuropathologie. 1911 bestellte man ihn zudem als neurologischen Gutachter des Verbands der Genossenschaftskrankenkasse. 1915 wurde er zum tit. ao. Professor ernannt. Im 1. Weltkrieg diente Stransky vor allem bei der Demobilisierung und als psychiatrischer Sachverständiger für die Wiener Militärgerichte und erreichte den Rang eines Majorarztes. Dennoch fand er auch Zeit für wissenschaftliche Studien und befasste sich mit Untersuchungen zur Neuritis. Nach dem 1. Weltkrieg setzte er seine Karriere an der Universität fort. Daneben war er bis zu seinem Lebensende als Gerichtsgutachter tätig, insbesondere auch bei großen Prozessen mit medialem Interesse.

 

Pionier der Schizophrenie-Forschung

Seine weit über 200 wissenschaftlichen Arbeiten umfassen ein breites Spektrum auf den Gebieten Psychiatrie, Neurologie und ihrer verwandten Wissenschaften. Stransky verfasste Arbeiten über manisch-depressive Erkrankungen, zur Anatomie der entzündeten Nerven, über angewandte Psychopathologie sowie Multiple Sklerose und ihrer Fremdbluttherapie. Darüber hinaus bereicherte er die Fachwelt durch zahlreiche Beiträge, die sich u. a. mit progressiver Paralyse, Epilepsie oder dem Korsakow-Syndrom befassten. Sein zweiteiliges „Lehrbuch der allgemeinen und speziellen Psychiatrie“ (1914, 1919) wurde zum Standardwerk für Generationen von Schülern und Ärzten. Stranskys ganz besonderes Interesse galt jedoch dem Krankheitsbild der Schizophrenie, für die er als pathologisches Moment die sogenannte intrapsychische Ataxie, Dissoziationen zwischen krankhaften Gedanken und den zugehörigen Affekten, postulierte. Er zählte zu den ersten Psychiatern, die diese Krankheit erforschten und ihre Auswirkungen beschrieben. Seine diesbezüglichen Arbeiten haben Weltgeltung. Speziell sein Beitrag „Von der Dementia praecox zur Schizophrenie" (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 72, 1953, S. 329-343) ist eine bemerkenswerte Analyse seiner Schizophrenie-Forschungen während fünf Jahrzehnten und bietet gleichzeitig einen Überblick über Stranskys wissenschaftliche Entwicklung. Als großer Gegner der Psychoanalyse forcierte er die Bedeutung der Psychotherapie, wobei er insbesondere dem Hausarzt als wichtigen Ansprechpartner für die Patienten Bedeutung zukommen ließ. Darüber hinaus galt er als Vorreiter der Psychohygiene-Bewegung in Österreich sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch nach dem Zweiten Weltkrieg und gründete gemeinsam mit Otto Kauders die österreichische Gesellschaft für Psychohygiene, die weltweit Nachahmung fand. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang sein 1931 publizierter Sammelband „Leitfaden der psychischen Hygiene“.

 

Stransky im Spiegelbild der Politik

Stransky, der 1902 zum evangelischen Glauben AB konvertierte, war seit Jugendtagen deutsch-national eingestellt. Nach dem 1. Weltkrieg trat er in Wien der Nationaldemokratischen Partei bei, doch stieß dies auf Grund seiner jüdischen Wurzeln auf Ablehnung und er musste die Partei wieder verlassen. Danach war er Sprecher der deutschnationalen Czernin-Gruppe in der Bürgerlich-demokratischen Arbeiterpartei und um 1930 Sprecher des Schober-Blocks. Während des Austrofaschismus hatte Stransky illegale Nationalsozialisten sowie die Rassenpsychiatrie unterstützt.

Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 versuchte Stransky mit dem Hinweis auf seine früheren Verdienste Ausreisegenehmigungen für sich und seine Frau, die Opernsängerin Josephine Stransky, die er 1919 geheiratet hatte, zu erlangen. Als dies misslang, strebte er die Reichsbürgerschaft oder einen Militärdienst an. Auch diese Überlebensstrategien scheiterten. Im Juli wurde er vom damaligen Dekan der Universität Wien Eduard Pernkopf aufgefordert, seine Lehrtätigkeit niederzulegen, und bereits am 4. Juli 1938 wurde er seiner Universitätsämter verlustig. Dass Stransky das Dritte Reich in Österreich letztendlich unbeschadet überleben und einer Deportation entgehen konnte, hatte er seiner arischen Frau zu verdanken.

1945 - Stranskys Neubeginn

Im Alter von 68 Jahren wurde Stransky 1945 unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkriegs mit dem Wiederaufbau der städtischen Nervenheilanstalt Rosenhügel betraut. Dieses Therapiezentrum wurde im 2. Weltkrieg als Lazarett verwendet. Die Gebäude waren durch Bombenangriffe schwer beschädigt, insbesondere der Pavillon B mit der 2. Neurologischen Abteilung wurde fast völlig zerstört. Mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien und zahlreichen Mitarbeitern gelang es Stransky, die Nervenheilanstalt innerhalb kurzer Zeit zu einem führenden neurologischen und psychiatrischen Zentrum auszubauen. Noch im Mai 1945 wurde er zum kommissarischen, 1947 dann zum amtlichen Leiter bestellt. 1946 erfolgte seine Ernennung zum tit. o. Professor, ebenso die Wiederverleihung der Venia legendi. 1947 emeritierte Stransky, war aber noch bis 1951 als Honorarprofessor tätig. Erst 1951 trat er 74jährig endgültig in den Ruhestand.

In zahlreichen wissenschaftlichen Gremien prägend tätig, war Stransky ab 1903 Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien, ab 1945 gehörte er deren Verwaltungsrat an. Weiters war Stransky Mitglied u. a. im Verein für Psychiatrie und Neurologie, in der Gesellschaft für Innere Medizin, in der Österreichischen kriminalistischen Vereinigung, in der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, in der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte und in der Société Médico-Psychologique in Paris (diese Mitgliedschaft legte er während des Zweiten Weltkriegs auf Grund der ablehnenden Haltung der französischen Gelehrten gegenüber den deutschen Kollegen nieder). 1915 erhielt Stransky das Ritterkreuz des Franz Joseph-Ordens. 1933 wählte man ihn als ersten Österreicher zum Ehrenmitglied der American Psychiatric Association. Die Republik Österreich verlieh ihm das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft. Unter seinem Vorsitz wurde 1920 der Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie gegründet. Stransky, der am 26. 1. 1962 verstarb, gilt als einer der letzten Universalgelehrten auf den Gebieten Neurologie und Psychiatrie.

 

Werke: s. Kreuter. – Nachlass: Österreichische Nationalbibliothek, Wien.

Literatur (Auswahl): Rathauskorrespondenz, 1. 7. 1957; Die Furche, 25. 6. 1960; Kurier, 27. 1. 1962; Herbert Reisner, Dr. Erwin Stransky in memoriam, in: Wiener Klinische Wochenschrift 74, 1962, S. 213f.; ders., Erwin Stransky, the man and the psychiatrist, in: Wiener Zeitschrift für Nervenheilkunde und deren Grenzgebiete 20, 1962, S. 3-6; Hans Hoff, In memoriam Professor Erwin Stransky, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 112, 1962, S. 181f.; Milo Tyndel, In Memoriam Erwin Stansky, in: The American Journal of Psychiatry 119, 1962, S. 287f.; Gottfried Roth, Erwin Stransky (1877-1962), in: Österreichische Ärztezeitung 32, 1977, S. 874 (mit Bild); Judith Bauer-Merinsky, Die Auswirkungen der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich auf die medizinische Fakultät der Universität Wien im Jahre 1938. Biographien entlassener Professoren und Dozenten, phil. Diss. Wien, 1980, S. 261-265; Vertriebene Vernunft I, ed. Friedrich Stadler, 1987, s. Reg.; Alma Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater 3, 1996 (mit Werk- u. Literaturverzeichnis); Zur Geschichte der Psychiatrie in Wien, ed. Helmut Gröger u. a., 1997, S. 69-71; Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien 5, 1997 (mit Literaturverzeichnis); Exodus der Professoren vor 1938, Antisemitismus in der alten Wiener Medizinischen Schule, in: Medical Tribune 36, 2004, S. 21f.; Karl Heinz Tragl, Chronik der Wiener Krankenanstalten, 2007, s. Reg.; Allgemeines Verwaltungsarchiv, Universitätsarchiv, beide Wien.

(D. Angetter)


Dem Universitätsarchiv sei für die Bereitstellung des Porträts von Erwin Stransky gedankt.