Gottschalk von Aachen

Berater Heinrichs IV. (2. Hälfte 11. Jahrhundert./Anfang 12. Jahrhundert)

Tobias Weller (Bonn)

Von Gottschalk von Aachen verfasste Urkunde Kaiser Heinrichs IV. (Regierungszeit 1053/1056–1106) an das Aachener Stift St. Marien, 1098. (Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland)

Gott­schalk war Ka­plan am Hof des sa­li­schen Herr­schers Hein­rich IV. (Re­gie­rungs­zeit 1053/1056–1106) und der wich­tigs­te Mit­ar­bei­ter in des­sen Kanz­lei. Au­ßer­dem zählt er zu den be­deu­tends­ten Se­quen­zen­dich­tern des Mit­tel­al­ters. Sei­ne Per­son tritt fast voll­stän­dig hin­ter den un­mit­tel­ba­ren Zeug­nis­sen sei­nes Wir­kens zu­rück. Erst die kri­ti­sche Ge­schichts­wis­sen­schaft konn­te sei­nen Le­bens­weg we­nigs­tens in sche­men­haf­ten Kon­tu­ren nach­zeich­nen.

Gott­schalks Ge­burts­jahr ist un­be­kannt. Be­stimm­te Be­son­der­hei­ten sei­ner Or­tho­gra­phie deu­ten auf ei­ne nie­der­deut­sche Her­kunft. Über sei­nen so­zia­len Hin­ter­grund und sei­ne Aus­bil­dung weiß man nichts. Erst­mals fass­bar ist er im De­zem­ber 1071, als er für Kö­nig Hein­rich IV. als Ur­kun­den­no­tar tä­tig wur­de. In der Fol­ge­zeit war er dann in ma­ß­geb­li­cher Po­si­ti­on mit der Ur­kun­den­aus­fer­ti­gung der herrscher­li­chen Kanz­lei be­traut. Die in­di­vi­du­el­len Merk­ma­le sei­ner Hand­schrift und sei­ne ei­gen­wil­li­gen For­mu­lie­run­gen (ver­schach­tel­te Satz­kon­struk­tio­nen, rhe­to­ri­sche Fi­gu­ren, Re­impro­sa) er­lau­ben es, ihm über 70 Herr­scher­ur­kun­den zu­zu­wei­sen, die er ge­schrie­ben hat be­zie­hungs­wei­se die in ih­rem Wort­laut voll­stän­dig oder in Tei­len auf sein Dik­tat zu­rück­ge­hen. Von En­de 1071 bis Ju­li 1076 reis­te er stän­dig mit dem Hof Hein­richs IV. durch das Reich; vom Som­mer 1077 bis zum Ok­to­ber 1084 be­fand er sich zu­min­dest über­wie­gend im Um­feld des Herr­schers. In die­ser Zeit war er die ak­tivs­te Kraft in der Kanz­lei; pha­sen­wei­se be­sorg­te er die Kanzlei­ge­schäf­te so­gar mehr oder we­ni­ger al­lein. 

Im so ge­nann­ten In­ves­ti­tur­streit zwi­schen Hein­rich IV. und Papst Gre­gor VII. (Pon­ti­fi­kat 1073–85) um die Kir­chen­ho­heit des Kö­nigs und die Ge­wich­tung des Ver­hält­nis­ses zwi­schen Kö­nig­tum/Kai­ser­tum und Papst­tum hat Gott­schalk ve­he­ment für sei­nen Herrn Par­tei er­grif­fen: In den Ur­kun­den be­ton­te er die prin­zi­pi­el­le Got­tun­mit­tel­bar­keit der Kö­nigs­wür­de und die Schutz- und Sorg­falts­pflicht des Herr­schers für die Kir­chen sei­nes Rei­ches. Als der Kon­flikt im Ja­nu­ar 1076 es­ka­lier­te und Hein­rich IV. auf ei­ner Bi­schofs­ver­samm­lung in Worms den Papst zur Ab­dan­kung auf­for­der­te, setz­te Gott­schalk sei­ne rhe­to­ri­schen Fä­hig­kei­ten auch öf­fent­lich­keits­wirk­sam ein: Im Na­men sei­nes Kö­nigs ver­fass­te er ei­nen en­er­gi­schen Ap­pell an Kle­rus und Volk von Rom, die er zur of­fe­nen Feind­schaft ge­gen Gre­gor VII. auf­rief und da­zu an­hielt, den „Ein­dring­ling und Be­drü­cker der Kir­che und des rö­mi­schen Ge­mein­we­sen­s“ zum Rück­tritt zu zwin­gen (Worm­ser Ab­sa­ge­schrei­ben). Nach­dem der Papst sei­ner­seits am 14.2.1076 den Kö­nig ex­kom­mu­ni­ziert und ei­gen­mäch­tig von der Herr­schaft ab­ge­setzt hat­te, ließ Hein­rich IV. ei­ne Pro­pa­gan­da­ver­si­on sei­nes Ab­sa­ge­schrei­bens in Um­lauf set­zen, die wie­der­um von Gott­schalk kon­zi­piert wor­den war. In agi­ta­to­ri­scher Ma­nier be­nann­te er den Papst nicht mit sei­nem Pon­ti­fi­kats­na­men, son­dern be­zeich­ne­te ihn als „fal­schen Mönch Hil­de­bran­d“ und über­schüt­te­te ihn mit Vor­wür­fen: Er ma­ße sich All­wis­sen­heit an und ha­be sei­nen Weg auf den Stuhl Pe­tri mit List, Geld und Ge­walt ge­bahnt, um dann den ge­sam­ten Kle­rus hem­mungs­los zu un­ter­drü­cken. Dem päpst­li­chen An­spruch, dem Kö­nig not­falls die Kö­nigs­herr­schaft ent­zie­hen zu kön­nen, hielt Gott­schalk das po­li­ti­sche Cre­do des sa­li­schen Ho­fes ent­ge­gen: Der ge­salb­te Kö­nig sei von Gott ein­ge­setzt und kön­ne al­lein von ihm ge­rich­tet wer­den. Das Rund­schrei­ben schlie­ßt mit dem em­pha­ti­schen Aus­ruf: „Ich, Hein­rich, Kö­nig von Got­tes Gna­den, sa­ge dir mit al­len un­se­ren Bi­schö­fen: Stei­ge her­ab, stei­ge her­ab!“

Et­wa gleich­zei­tig fer­tig­te Gott­schalk ein wei­te­res pro­pa­gan­dis­ti­sches Rund­schrei­ben an die Reichs­bi­schö­fe an, in dem er Gre­gor VII. mit dem Chris­ten­ver­fol­ger De­ci­us (Re­gie­rungs­zeit 249-251) ver­glich und die früh­mit­tel­al­ter­li­che Zwei-Schwer­ter-Leh­re auf die ak­tu­el­le Si­tua­ti­on ap­pli­zier­te: Ei­gent­lich soll­ten sich die bei­den Schwer­ter – näm­lich die welt­li­che und die geist­li­che Ge­walt (re­gnum et sa­cer­do­ti­um) – zum Woh­le der Chris­ten­heit er­gän­zen; das pries­ter­li­che Schwert sol­le zum Ge­hor­sam ge­gen­über dem Kö­nig für Gott ge­führt wer­den, das kö­nig­li­che Schwert nach au­ßen hin die Fein­de Chris­ti ver­trei­ben und nach in­nen den Ge­hor­sam ge­gen­über der geist­li­chen Ge­walt si­cher­stel­len. Doch der Papst ha­be sich in fre­vel­haf­ter Miss­ach­tung der gött­li­chen Ord­nung bei­de Ge­wal­ten an­ge­ma­ßt, wo­mit er letzt­lich bei­de zer­stört ha­be.

Trotz die­ser „Öf­fent­lich­keits­ar­beit“ er­stark­te die fürst­li­che Op­po­si­ti­on im Reich und nö­tig­te Hein­rich IV. da­zu, buß­fer­tig vor Gre­gor VII. um die Lö­sung vom Kir­chen­bann zu bit­ten. Auf die­sem „Gang nach Ca­nossa“ (Ja­nu­ar 1077) hat Gott­schalk sei­nen Herrn nicht be­glei­tet. Auch als Hein­rich nach dem zwei­ten, end­gül­ti­gen Bruch mit Gre­gor (1080) er­neut über die Al­pen zog, um die Ent­schei­dung zu su­chen, blieb Gott­schalk zu­nächst in Deutsch­land. Nach ei­nem fehl­ge­schla­ge­nen Ver­such, Rom ein­zu­neh­men, wur­de er je­doch nach Ita­li­en be­or­dert. Hier for­mu­lier­te er ein Ma­ni­fest, in dem der Kö­nig die Kar­di­nä­le, Kle­ri­ker und Lai­en der Ewi­gen Stadt be­schwor, den Papst da­zu zu brin­gen, sich in ei­ner öf­fent­li­chen Ver­hand­lung für sei­ne Amts­füh­rung zu ver­ant­wor­ten. Er­neut be­schul­dig­te er „je­nen Herrn Hil­de­bran­d“, das welt­li­che Schwert zu miss­ach­ten und den voll­stän­di­gen Un­ter­gang der Kir­che zu pro­vo­zie­ren. Auf der an­de­ren Sei­te schmei­chel­te er den Rö­mern als „Freun­den der Ge­rech­tig­keit“ und ver­sprach ih­nen, sie bei der Er­he­bung ei­nes neu­en Paps­tes zu be­tei­li­gen: „Wir sind be­reit, nichts oh­ne euch, son­dern mit euch al­les zu tun“. 

Un­mit­tel­ba­re Re­ak­tio­nen auf die­sen Auf­ruf sind nicht be­kannt. Erst zwei Jah­re spä­ter konn­te Hein­rich IV. in Rom ein­zie­hen, wäh­rend Gre­gor VII. sich in der En­gels­burg ver­schanz­te. Hein­richs Kai­ser­krö­nung durch den da­mals in­thro­ni­sier­ten Ge­gen­papst Cle­mens (III.) scheint Gott­schalk als Au­gen­zeu­ge mit­er­lebt zu ha­ben (31.3.1084). Nach der Rück­kehr nach Deutsch­land schied er im Herbst 1084 aus dem re­gu­lä­ren Kanz­lei­be­trieb aus, wahr­schein­lich we­gen per­so­nel­ler Um­struk­tu­rie­run­gen in der Kanz­lei­lei­tung. Al­ler­dings hat er auch da­nach noch ver­ein­zelt bis 1102/1104 Herr­scher­ur­kun­den ge­schrie­ben und/oder ver­fasst. Als Be­loh­nung für sein loya­les pro­kai­ser­li­ches En­ga­ge­ment stat­te­te Hein­rich IV. sei­nen Ka­plan Gott­schalk, den er aus­drück­lich als „mit löb­li­cher Ge­lehr­sam­keit be­gab­t“ be­zeich­ne­te (lau­da­bi­li sci­en­tia pre­ditus), mit kirch­li­chen Pfrün­den aus. 1087 ist Gott­schalk als Propst von St. Ser­va­ti­us in Maas­tricht be­legt; nach 1091 kam noch die Propst­wür­de des hoch an­ge­se­he­nen Aa­che­ner Ma­ri­en­stif­tes hin­zu. Für die­ses Stift schrieb er selbst im Auf­trag des Kai­sers 1099 ei­ne Herr­scher­ur­kun­de, in der er sich den pre­tiö­sen Ti­tel ei­nes cap­pel­la­ri­us zu­leg­te, wo­mit er auf sei­ne her­aus­ge­ho­be­ne Stel­lung in der Hof­ka­pel­le an­spiel­te. Noch vor 1108 re­si­gnier­te Gott­schalk aber von der Props­tei und trat als Mönch in das pfäl­zi­sche Klos­ter Klin­gen­müns­ter ein. Wo­mög­lich steht die­se Re­si­gna­ti­on im Zu­sam­men­hang mit dem Tod Hein­richs IV. (7.8.1106) und der Re­gie­rungs­über­nah­me Hein­richs V. (Re­gie­rungs­zeit 1106-1125), der sich zu­vor ge­walt­sam ge­gen sei­nen Va­ter em­pört hat­te. Viel­leicht konn­te Gott­schalk sich als ent­schie­de­ner An­hän­ger des al­ten Kai­sers nicht als Propst von Aa­chen hal­ten.

Nach sei­nem Aus­schei­den aus der Kanz­lei war Gott­schalk als lit­ur­gi­scher Au­tor tä­tig und hat mehr als 20 Se­quen­zen (hym­nen­ar­ti­ge Mess­ge­sän­ge) ge­schrie­ben. Sei­nem kai­ser­li­chen Men­tor Hein­rich IV. hat er ei­ne Samm­lung sol­cher Se­quen­zen ge­wid­met. Au­ßer­dem ver­fass­te Gott­schalk Trak­ta­te und Pre­dig­ten (ser­mo­nes), von de­nen sich im­mer­hin sechs er­hal­ten ha­ben. Hier­in ver­tei­dig­te er sich un­ter an­de­rem ge­gen Kri­tik, die ge­gen ei­ni­ge sei­ner Dich­tun­gen laut ge­wor­den war. So war er zwar ein gro­ßer Ma­ri­en­ver­eh­rer und kom­po­nier­te meh­re­re Se­quen­zen zum Lob der Got­tes­mut­ter; den­noch hielt er ge­gen Wi­der­spruch an sei­nen Zwei­feln über die leib­li­che Auf­nah­me Ma­ri­ens in den Him­mel fest, die er nur zu wün­schen, aber nicht zu be­haup­ten wag­te. An­stoß er­reg­te Gott­schalk auch mit sei­ner für die Brü­der des Klos­ters Lim­burg an der Hardt (na­he Bad Dürk­heim) ver­fass­ten Pre­digt über die Pas­si­on der Hei­li­gen Ire­nä­us und Abun­di­us: Hier mach­te er die Kloa­ke, in die die bei­den Mär­ty­rer ge­wor­fen wur­den, zum Aus­gangs­punkt für al­ler­lei mys­ti­sche Be­trach­tun­gen. Den hier­über pein­lich be­rühr­ten Zeit­ge­nos­sen hielt er ei­ne gan­ze Samm­lung von Bi­bel­zi­ta­ten vor, die un­ziem­li­che Vo­ka­beln ent­hal­ten, und er­klär­te, dass nicht nur die Kloa­ke und der Kot, son­dern auch die Ge­ni­ta­li­en und der Bei­schlaf of­fen be­nannt wer­den müss­ten, wenn dies zum wohl­er­wo­ge­nen Nut­zen ge­sche­he. 

Gott­schalk starb an ei­nem 24. No­vem­ber; sein To­des­jahr lässt sich nicht ein­mal an­nä­hernd be­stim­men. In der Herr­scher­kanz­lei hat er mit sei­nem spe­zi­fi­schen For­mu­lie­rungs­stil kei­ne Nach­ah­mer ge­fun­den. Auch als kai­ser­treu­er Pro­pa­gan­dist ist er der un­mit­tel­ba­ren Nach­welt of­fen­bar nicht nach­hal­tig im Ge­dächt­nis ge­blie­ben – wohl aber als lit­ur­gi­scher Li­te­rat: Sei­ne Aa­che­ner Mit­ka­no­ni­ker ehr­ten ihn im Ne­kro­log des Ma­ri­en­stif­tes als Au­tor ei­ner Se­quenz zum Tag der Apos­tel­tei­lung (15. Ju­li), und in ei­nem Mit­te des 12. Jahr­hun­derts im Klos­ter Prü­fe­ning (bei Re­gens­burg) ent­stan­de­nen Kom­pen­di­um über be­rühm­te kirch­li­che Schrift­stel­ler fir­miert Gott­schalk als Ver­fas­ser ei­nes Pre­digt­büch­leins. 

Literatur

Gund­lach, Wil­helm, Ein Dic­ta­tor aus der Kanz­lei Kai­ser Hein­richs IV. Ein Bei­trag zur Di­plo­ma­tik des sa­li­schen Herr­scher­hau­ses mit Ex­cur­sen über den Ver­fas­ser der Vi­ta Hein­ri­ci IV. im­pe­ra­to­ris und des Car­men de bel­lo Sa­xo­ni­co, Inns­bruck 1884.
Erd­mann, Carl/von Gla­diß, Diet­rich, Gott­schalk von Aa­chen im Diens­te Hein­richs IV., in: Deut­sches Ar­chiv für Ge­schich­te des Mit­tel­al­ters 3 (1939), S. 115-174.
Gaw­lik, Al­fred, Ein­lei­tung zu: Die Ur­kun­den Hein­richs IV., be­arb. von Diet­rich von Gla­diß und Al­fred Gaw­lik (MGH Di­plo­ma­ta re­gum et im­pe­ra­to­rum Ger­ma­niae 6), Ber­lin-Wei­mar-Han­no­ver 1941-1978, hier S. LXI-LXVIII.
Schief­fer, Ru­dolf, Gott­schalk von Aa­chen, in: Die deut­sche Li­te­ra­tur des Mit­tel­al­ters. Ver­fas­ser­le­xi­kon, 2. Auf­la­ge, Band 3 (1981), Sp. 186-189.
Schmeid­ler, Bern­hard, Kai­ser Hein­rich IV. und sei­ne Hel­fer im In­ves­ti­tur­streit, Leip­zig 1927, S. 5-85.
Struve, Til­man, Gott­schalk von Aa­chen, in: Le­xi­kon des Mit­tel­al­ters, Band 4 (1989), Sp. 1610-1611.

Online

Die Ur­kun­den Hein­richs IV., be­arb. von Diet­rich von Gla­diß und Al­fred Gaw­lik (MGH Di­plo­ma­ta re­gum et im­pe­ra­to­rum Ger­ma­niae 6), Ber­lin/Wei­mar/Han­no­ver 1941-1978
Die Brie­fe Hein­richs IV., hg. von Carl Erd­mann (MGH Deut­sches Mit­tel­al­ter. Kri­ti­sche Stu­di­en­tex­te 1), Leip­zig 1937.

 
Zitationshinweis

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Weller, Tobias, Gottschalk von Aachen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gottschalk-von-aachen/DE-2086/lido/57c6d4e0688534.57799875 (abgerufen am 26.04.2024)