Oswald von Nell-Breuning

Katholischer Theologe und Nationalökonom (1890-1991)

Nina Streeck (München)

Oswald von Nell-Breuning, Porträtfoto. (Nell-Breuning-Berufskolleg Frechen)

Be­reits zu Leb­zei­ten galt Os­wald von Nell-Bre­u­ning als „Nes­tor der Ka­tho­li­schen So­zi­al­leh­re“, der so­zi­al­wis­sen­schaft­li­che, öko­no­mi­sche, ju­ris­ti­sche, phi­lo­so­phi­sche und theo­lo­gi­sche Kom­pe­ten­zen ver­ein­te.

Er wur­de am 8.3.1890 als Sohn des Wein­gut­be­sit­zers Ar­thur von Nell (1857-1939) und sei­ner Frau Bern­har­da von Bre­u­ning (1862-1933) in Trier ge­bo­ren. Be­vor der Va­ter sich seit 1895 ganz der Be­wirt­schaf­tung des Gu­tes St. Mat­thi­as, das er von sei­nem Va­ter ge­erbt hat­te, wid­me­te, hat­te der pro­mo­vier­te Ju­rist als Ers­ter Bei­ge­ord­ne­ter der Stadt Trier am­tiert. Die El­tern des jun­gen Os­wald hät­ten ger­ne ge­se­hen, dass der Sohn den Fa­mi­li­en­be­trieb wei­ter­führ­te; die­ser je­doch wünsch­te sich schon früh, Pries­ter zu wer­den.

Nach dem Ab­itur am hu­ma­nis­ti­schen Trie­rer Fried­rich-Wil­helm-Gym­na­si­um, das schon Karl Marx be­sucht hat­te, stu­dier­te er zu­nächst vier Se­mes­ter lang Ma­the­ma­tik und Na­tur­wis­sen­schaf­ten in Kiel, Mün­chen, Straß­burg und Ber­lin. 1910 nahm er das Stu­di­um der Phi­lo­so­phie und Theo­lo­gie in Inns­bruck auf, um ein Jahr spä­ter in das zwei­jäh­ri­ge No­vi­zi­at der Je­sui­ten im nie­der­län­di­schen ΄s-Hee­ren­berg ein­zu­tre­ten (der Je­sui­ten­or­den war in Deutsch­land von 1872 bis 1917 ver­bo­ten). Vom Je­sui­ten­or­den er­hoff­te er sich die Mög­lich­keit per­sön­li­cher Rei­fung und cha­rak­ter­li­cher Durch­for­mung. Dem No­vi­zi­at schloss sich das Phi­lo­so­phie­stu­di­um an der Or­dens­hoch­schu­le im nie­der­län­di­schen Val­ken­burg an, das je­doch durch sei­nen Dienst als Sa­ni­tä­ter bei ei­nem Mal­te­ser­la­za­rett­trupp im Ers­ten Welt­krieg zwi­schen 1914 und 1916 un­ter­bro­chen wur­de. 1916 wur­de er we­gen ei­ner Er­kran­kung als nicht mehr kriegs­ver­wen­dungs­fä­hig ent­las­sen. Es folg­te ei­ne vier­jäh­ri­ge Tä­tig­keit als In­ter­nats­er­zie­her am Je­sui­ten­kol­leg „Stel­la Ma­tu­ti­na“ im ös­ter­rei­chi­schen Feld­kirch. 1921 wur­de von Nell-Bre­u­ning zum Pries­ter ge­weiht. Ei­ne Ge­mein­de hat er zeit­le­bens nicht be­treut; der Or­den sah ihn für ei­ne wis­sen­schaft­li­che Lauf­bahn vor.

Wei­te­re Stu­di­en an der Päpst­li­chen Uni­ver­si­tät Gre­go­ria­na in Rom schlos­sen sich an. Von 1923 bis 1926 war er Mit­glied ei­ner Red­ner­grup­pe von Je­sui­ten, die in knapp 100 Städ­ten mit re­li­gi­ös-wis­sen­schaft­li­chen Vor­trä­gen in Kir­chen auf­trat. 1926 schick­te der Or­den ihn nach Müns­ter zu Jo­seph Maus­bach (1861-1931) und Hein­rich We­ber (1888-1946), bei de­nen er 1928 über die „Grund­zü­ge der Bör­sen­mo­ral“ pro­mo­vier­te, wo­mit er sich als ka­tho­li­scher So­zi­al­ethi­ker ei­nen Na­men mach­te. Im sel­ben Jahr wur­de er als Pro­fes­sor für Mo­ral­theo­lo­gie, Kir­chen­recht und Ge­sell­schafts­wis­sen­schaf­ten an die neu ge­grün­de­te, or­dens­ei­ge­ne Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­sche Hoch­schu­le St. Ge­or­gen in Frank­furt am Main be­ru­fen.

Fe­der­füh­rend ar­bei­te­te er an der 1931 ver­öf­fent­lich­ten So­zia­len­zy­kli­ka „Qua­dra­gesi­mo an­no“ von Papst Pi­us XI. (Pon­ti­fi­kat 1922-1939) mit, wo­bei er wich­ti­ge An­re­gun­gen vom „Kö­nigs­win­te­rer Kreis“, ei­nem Zu­sam­men­schluss be­deu­ten­der ka­tho­li­scher So­zi­al­wis­sen­schaft­ler, emp­fing. Die En­zy­kli­ka mahn­te ge­sell­schaft­li­che Re­for­men an und ent­wi­ckel­te vor die­sem Hin­ter­grund den Ge­dan­ken des Sub­si­dia­ri­täts­prin­zips und der be­rufs­stän­di­schen Ord­nung. Wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus konn­te von Nell-Bre­u­ning zwi­schen 1936 und 1945 nicht pu­bli­zie­ren. Als Mit­ar­bei­ter der Ver­mö­gens­ver­wal­tung sei­nes Or­dens wur­de 1936 ein Er­mitt­lungs­ver­fah­ren we­gen an­geb­li­cher De­vi­sen­ver­ge­hen ge­gen ihn an­ge­strengt; 1943 er­ging das Ur­teil: drei Jah­re Haft. Die­se muss­te er je­doch nicht an­tre­ten, weil er auf­grund sei­ner an­ge­schla­ge­nen Ge­sund­heit für haft­un­fä­hig er­klärt wur­de. Im sel­ben Jahr en­de­te vor­über­ge­hend sei­ne Vor­le­sungs­tä­tig­keit; der Lehr­be­trieb an der Hoch­schu­le St. Ge­or­gen wur­de ein­ge­stellt. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg setz­te er sich in­ten­siv für sei­ne so­zi­al­po­li­ti­schen An­lie­gen und die Re­or­ga­ni­sa­ti­on des so­zia­len Ka­tho­li­zis­mus ein. In zahl­rei­chen Ver­öf­fent­li­chun­gen – un­ter an­de­rem dem „Wör­ter­buch der Po­li­ti­k“, das er ge­mein­sam mit Her­mann Sa­cher (ge­bo­ren 1873) zwi­schen 1947 und 1959 her­aus­gab – ver­half er der ka­tho­li­schen So­zi­al­leh­re, öf­fent­lich Ge­hör zu fin­den. In den drei Bän­den sei­nes Wer­kes „Wirt­schaft und Ge­sell­schaf­t“ (1956-1960) setz­te er sich für ei­ne wirt­schaft­li­che Neu­ord­nung, ins­be­son­de­re der Un­ter­neh­mens­struk­tu­ren ein, wo­für er in der Zeit des Wie­der­auf­baus die Chan­ce ge­kom­men sah. So for­der­te er et­wa ei­ne stär­ke­re In­te­gra­ti­on der Ar­beit­neh­mer, ei­nen ge­rech­ten Lohn und ein Streik­recht der Ge­werk­schaf­ten. Bis zu sei­nem Le­bens­en­de soll­te er über 1800 Schrif­ten ver­fas­sen. Sei­ne wich­tigs­ten The­men wa­ren die Aus­ge­stal­tung der ka­tho­li­schen So­zi­al­leh­re und die Wie­der­an­nä­he­rung von Kir­che und Ar­bei­ter­schaft.

1948 wur­de er in den wis­sen­schaft­li­chen Bei­rat des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Wirt­schaft be­ru­fen, dem er bis 1965 an­ge­hör­te. Von 1950 bis 1958 saß er au­ßer­dem im wis­sen­schaft­li­chen Bei­rat des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Woh­nungs­bau, von 1959 bis 1961 in dem­je­ni­gen des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Fa­mi­li­en- und Ju­gend­fra­gen. Eben­falls 1948 er­teil­te ihm die Phi­lo­so­phi­sche Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät Frank­furt ei­nen Lehr­auf­trag für Mo­ral­theo­lo­gie und So­zi­al­ethik, 1949 kam ei­ne Lehr­tä­tig­keit an der Frank­fur­ter Aka­de­mie der Ar­beit, ei­ner Aus­bil­dungs­ein­rich­tung für Ge­werk­schafts­se­kre­tä­re, hin­zu, 1956 wur­de er Ho­no­rar­pro­fes­sor für phi­lo­so­phi­sche Grund­fra­gen der Wirt­schaft an der Wirt­schafts- und So­zi­al­wis­sen­schaft­li­chen Fa­kul­tät in Frank­furt. Seit 1959 war er Mit­glied des Wirt­schafts­wis­sen­schaft­li­chen In­sti­tuts des Deut­schen Ge­werk­schafts­bun­des, wo er sich für ei­ne Ein­heits­ge­werk­schaft stark mach­te. Er setz­te sich fer­ner ein für die wirt­schaft­li­che Mit­be­stim­mung und für Mo­del­le der Ver­mö­gens­bil­dung für Ar­beit­neh­mer. Trotz sei­ner Nä­he zum Deut­schen Ge­werk­schafts­bund kri­ti­sier­te er die­sen auch, so war er et­wa ein Geg­ner der 35-Stun­den-Wo­che bei vol­lem Lohn­aus­gleich.

Sein ge­werk­schaft­li­ches En­ga­ge­ment hin­der­te ihn nicht dar­an, auch op­po­nie­ren­den Grup­pen be­ra­tend zur Sei­te zu ste­hen. Er war dank sei­ner un­ideo­lo­gi­schen Sach­lich­keit, sei­ner par­tei­po­li­ti­schen Neu­tra­li­tät und sei­ner prä­zi­sen Ana­ly­se und Spra­che sehr ge­fragt und be­riet Po­li­ti­ker, Un­ter­neh­mer so­wie sei­ne Kir­che glei­cher­ma­ßen. Ob­wohl von ka­tho­li­schen Un­ter­neh­mern für sein Ein­tre­ten für die wirt­schaft­li­che Mit­be­stim­mung hef­tig kri­ti­siert, wirk­te er et­wa mit bei der Grün­dung des Bun­des ka­tho­li­scher Un­ter­neh­mer 1949 und be­gut­ach­te­te spä­ter die Vor­schlä­ge von des­sen Ge­schäfts­füh­rer Wil­frid Schrei­ber (1904-1975) zur dy­na­mi­schen Ren­ten­ver­si­che­rung. Auch den bei­den gro­ßen Volks­par­tei­en SPD und CDU dien­te er als Be­ra­ter. So fan­den sei­ne Ge­dan­ken 1959 Ein­gang in das Go­des­ber­ger Pro­gramm der SPD, eben­so wirk­te er mit am CDU-Grund­satz­pro­gramm von 1978.

In­ner­halb des deut­schen Ka­tho­li­zis­mus be­tei­lig­te er sich in­ten­siv an den Dis­kus­sio­nen über die Ge­werk­schaf­ten in den 1950er Jah­ren und die wirt­schaft­li­che Mit­be­stim­mung in den 60er Jah­ren. Auf der Würz­bur­ger Syn­ode der Bis­tü­mer West­deutsch­lands von 1971 bis 1975 en­ga­gier­te er sich für das um­strit­te­ne Do­ku­ment „Kir­che und Ar­bei­ter­schaf­t“. Von Nell-Bre­u­ning scheu­te sich nicht, sei­ne Kir­che zu kri­ti­sie­ren, ließ aber nie Zwei­fel an sei­ner Treue zur Kir­che auf­kom­men und fühl­te sich durch die Ver­lei­hung der Gol­de­nen Bo­ni­fa­ti­us-Pla­ket­te durch die Deut­sche Bi­schofs­kon­fe­renz zu sei­nem 90. Ge­burts­tag be­stä­tigt.

Zahl­rei­che wei­te­re Eh­run­gen wur­den ihm zu­teil, zu­letzt das Bun­des­ver­dienst­kreuz an sei­nem 100. Ge­burts­tag. Er war Eh­ren­bür­ger sei­ner Hei­mat­stadt Trier (1981) und der Stadt Frank­furt am Main (1983). Auch in sei­nem letz­ten Le­bens­jahr­zehnt nahm er wei­ter re­ge An­teil an ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Dis­pu­ten. Erst kurz vor sei­nem Tod zog er sich zu­rück, woll­te sich zu wirt­schafts- und so­zi­al­po­li­ti­schen Fra­gen nicht mehr äu­ßern und statt­des­sen die ver­blei­ben­de Zeit theo­lo­gi­schen Stu­di­en wid­men. Os­wald von Nell-Bre­u­ning starb am 21.8.1991 in Frank­furt am Main.

Werke (Auswahl)

Grund­zü­ge der Bör­sen­mo­ral, Frei­burg 1928.
Die so­zia­le En­zy­kli­ka, Köln 1932.
Zur christ­li­chen Ge­sell­schafts­leh­re. Frei­burg 1947 (zu­sam­men mit Her­mann Sa­cher).
Mit­be­stim­mung, Lands­hut 1950.
Wör­ter­buch der Po­li­tik. Ge­sell­schaft - Staat - Wirt­schaft - So­zia­le Fra­ge, Frei­burg 1952 (zu­sam­men mit Her­mann Sa­cher).
Wirt­schaft und Ge­sell­schaft heu­te, 3 Bän­de Frei­burg 1956-60.
Grund­sätz­li­ches zur Po­li­tik, Mün­chen 1975
So­zia­le Si­cher­heit. Zu Grund­fra­gen der So­zi­al­ord­nung aus christ­li­cher Ver­ant­wor­tung, Frei­burg 1979.
Ge­rech­tig­keit un­d Frei­heit. Grund­zü­ge ka­tho­li­scher So­zi­al­leh­re, Mün­chen 1980.
Ka­pi­ta­lis­mus kri­tisch be­trach­tet. Zur Aus­ein­an­der­set­zung um das bes­se­re „Sys­te­m“, Frei­burg 1986.
Den Ka­pi­ta­lis­mus um­bie­gen. Schrif­ten zu Kir­che, Wirt­schaft und Ge­sell­schaft, Düs­sel­dorf 1990. 

Literatur

Grein, Eber­hard, Ich war im­mer Op­po­si­ti­on, Os­wald von Nell-Bre­u­ning, Je­su­it und Re­for­mer – Vi­sio­nen wer­den Wirk­lich­keit, St. Ot­ti­li­en 2005.
Hengs­bach, Fried­helm/Möh­ring-Hes­se, Mat­thi­as/Schro­eder, Wolf­gang, Ein un­be­kann­ter Be­kann­ter. Ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Werk von Os­wald von Nell-Bre­u­ning SJ, Köln 1990. 
Ket­tern, Bernd, Ar­ti­kel „Nell-Bre­u­ning, Os­wald von“, in: Bio­gra­phisch-Bi­blio­gra­phi­sches Kir­chen­le­xi­kon 6 (1993), Sp. 589-603.
Klein, He­ri­bert, Os­wald von Nell-Bre­u­ning, Un­beug­sam für den Men­schen, Le­bens­bild, Be­geg­nun­gen, Aus­ge­wähl­te Tex­te, Frei­burg 1989.

Online

Kurz­bio­gra­phie von Pa­ter Os­wald von Nell-Bre­u­ning SJ (In­for­ma­ti­on auf der Web­site des Os­wald von Nell-Bre­u­ning In­sti­tuts Frank­furt für Wirt­schafts- und Ge­sell­schafts­ethik der Phi­lo­so­phisch-Theo­lo­gi­schen Hoch­schu­le Sankt Ge­or­gen). [On­line]
Hengs­bach, Fried­helm, „Nell-Bre­u­ning, Os­wald von“, in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie 19 (1998), S. 56-58. [On­line]

 
Zitationshinweis

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Streeck, Nina, Oswald von Nell-Breuning, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/oswald-von-nell-breuning/DE-2086/lido/57c9534e0252d9.98758829 (abgerufen am 28.03.2024)