Weiß, Christian

[808] Weiß, Christian, geb. 1774 in Taucha bei Leipzig, studierte in Leipzig, 1801 a. o. Prof., 1805 Direktor des Lyzeums in Fulda, 1808 Schuldirektor in Naumburg, 1816 Schulrat in Merseburg, gest. daselbst 1853. = W. ist von. Kant, aber auch von Fries und Jacobi beeinflußt und vertritt einen übersinnlichen Realismus. Zugleich entwirft er die Grundzüge einer genetischen Psychologie, welche die Tatsachen des innern Lebens nach ihren inneren Gründen und nach ihrem Zusammenhange erforscht. Die (aus einem »Urzustand«. durch »Zersetzung« hervorgehenden) »psychischen Elemente«, die Urbestandteile der psychischen Kräfte, sind Trieb (das »Prinzip der Richtung«) und Sinn. Aus der Verbindung der Elemente gehen erst das Vorstellungs-, Begehrungs-, Gefühlsvermögen hervor. Entwicklungsstufen des Psychischen sind Sinnlichkeit, Verständigkeit, Vernünftigkeit. Ohne Tendenz, Trieb sind[808] keine Vorstellungen möglich. Das Wesen der Seele ist Handlung, die »dynamische Einheit der Elemente«. »Handlung« ist das Dasein der Seele von selten ihrer Kraft, »Zustand« von selten der Zeiterfüllung durch jene. Die Psychologie hat die seelischen Handlungen nicht bloß zu beschreiben, sondern auch zu analysieren; dadurch erhält man »Momente« der Handlungen und Zustände. Seele ist der »Fortgang eines Zeitlebens neben dem räumlichen Dasein eines organischen Wesens«. Wichtig sind Fertigkeit und Gewöhnung (Übung). Das seelische Leben »entwickelt« sich vom »Urgefühl« zu immer größerer Kompliziertheit und Stärke. Das »Gesetz der Gewöhnung« lautet: »Jede Handlung des Geistes begründet durch ihr bloßes Vollbrachtwerden einen Grad von Fertigkeit, sie so, wie sie das erstemal geschah, zu einer ändern Zeit wieder zu verrichten.« Das Leben ist durch psychische Kräfte erzeugt. Die Kraft ist das Reale aller Erscheinung. Existenz ist »Erscheinen der Kraft in Zeit und Raum«. Die Wechselwirkung zwischen Geist und Materie ist in Wahrheit eine »Wechselwirkung zwischen Kraft und Kraft«. Bei W. finden sich noch interessante Bemerkungen über das Wesen der Anschauung, des Bewußtseins, der Einbildungskraft, der freisteigenden Vorstellungen (durch organische Reize), des Triebes u. a. Nach W. »assimiliert sich im Ich jede Einwirkung von außen dem durch das ganze bisherige Zeitleben herbeigeführten Totalzustand des Subjekts« (vgl. Wundt). Im Wollen entsteht eine neue Art der Kausalität, die des Geistes auf sich selbst. Die Seele ist ein Individuum, aber nicht eine Substanz im gewöhnlichen, atomistischen Sinne. »Zu einem Individuum wird die Naturkraft schon durch ihre innere Entgegensetzung und Beschränkung, ohne alles weitere Substrat; und so auch die Seele.«

Schriften: Resultate der kritischen Philosophie, 1799 (Anonym). – Lehrbuch der Logik, nebst einer Einleit. zur Philosophie überhaupt, 1801. – Winke über eine durchaus praktische Philosophie, 1801. – Lehrbach der Philosophie des Rechts, 1804. – Untersuchungen über das Wesen und Wirken der menschlichen Seele, 1811 (Hauptwerk). – Vom lebendigen Gott, 1812. – Über Grund, Wesen und Entwicklung des religiösen Glaubens, 1845. – Betrachtungen über Rationalismus und Offenbarung, 1846.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 808-809.
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