Dühring, Eugen

[140] Dühring, Eugen, geb. 1833 in Groß-Zehlendorf bei Berlin, 1863 Privatdozent in Berlin, verlor die venia legendi wegen seiner Angriffe auf verschiedene Professoren.

D., der von Feuerbach, Comte u. a. beeinflußt ist, lehrt einen dem Materialismus zuneigenden Positivismus, eine »Wirklichkeitsphilosophie«, welche nichts anerkennt, als denkend verarbeitete Tatsachen der Erfahrung. Die Philosophie ist aktivistisch zu gestalten, sie soll ein »Prinzip allseitiger Gestaltung des Lebens« sein. Sie ist die »Entwicklung der höchsten Form des Bewußtseins von Welt und Leben«. Sie ist Wirklichkeitsphilosophie, verfolgt das Sein »ausschließlich am Leitfaden der Materialität oder, was dasselbe heißt, am Leitfaden der wahrnehmbaren Kräfte«. »Sie beruft sich nur auf Augen und Ohren und auf Verstandesschlüsse.« Sie ist Realismus und Objektivismus, Gegnerin alles Subjektivismus und Idealismus (Kants u. a.). Denken und Sein sind insofern identisch, als die Gesetze beider einander entsprechen, als das Sein durch das Erkennen nachgebildet wird, so daß alles restlos zu begreifen ist. »Die Naturwirklichkeit muß genau dein Gedanken entsprechen.« Die Empfindungsqualitäten, die Anschauungsformen (Raum und Zeit), die Kategorien (Kausalität usw.) sind objektiv. Letztere sind Schemata, »deren gegenständliche und an sich vorhandene Seite das Grundgerüst des Seins und der Seinsverhältnisse, also die Grundgesetze der Seinsverfassung selbst vorstellt.« Unsere Erkenntnisformen sind durch die ihnen vorausgehenden Seinsformen bedingt, sie sind subjektive Kopien objektiver Verhältnisse. Hingegen sagt das »Gesetz der bestimmten Anzahl« (vgl. auch Renouvier), daß jede gegebene Zahl und Größe als solche endlich sein muß, daß Unendlichkeit also nur in unserer subjektiven Fähigkeit, immer weiter zu zählen, liegt. »Eine abgezählte Unzahl oder Unendlichkeit von Einheiten wäre der völligste Widerspruch.« Das Geschehen (nicht das Sein) hat einen Anfang; es gibt kein objektives Gegenstück zur »subjektiven Schrankenlosigkeit« der Zeit, die Welt ist endlich in bezug auf Zeit, Raum und Kausalität. Die »Weltschematik« umfaßt die für alles Sein geltenden Prinzipien.

Die Denkgesetze haben objektive Korrelate; so gibt es in der Wirklichkeit (wie im richtigen Denken) keinen Widerspruch, nur einen »Antagonismus der Kräfte«. Es gibt eine »innere Logik« der Dinge. Das Geschehen in der Natur ist mechanischer Art, es hat einmal als ein erster Zustand des an sich gleichen Seins angefangen. Beharrung und Entwicklung gehören untrennbar zusammen. Die Substanz des Geschehens ist die Materie, deren Zustand die Kraft ist; die Materie besteht aus Atomen. Ein Produkt des Naturgeschehens [140] ist auch die Empfindung. Eine immaterielle Seele ist ein Unding; die Bewußtseinsvorgänge beruhen auf den Wirkungen besonderer Teile des Gehirns. Die Natur ist auf die Entstehung der Empfindung angelegt, hat diese zum Ziele, indem die Ordnung der Kausalreihe sie notwendig zur Folge hat. Immer höhere Seinsstufen zu produzieren, ist das Ziel der Natur. Trotz der in ihr vorkommenden Störungen ist sie als Ganzes gut (Optimismus). – Die »denkerische« Ethik D.s ist altruistisch, sie betont die Gerechtigkeit und die vernünftig geleitete Sympathie (Mitleid). In dem »sozietären System« sind Individualismus und Sozialismus vereinigt; die Gleichberechtigung aller ist zu fordern, der Wegfall aller Unterdrückung und Gewalt. Die Religion ist dann überflüssig (Atheismus).

SCHRIFTEN: De tempore, spatio, causalitate atque de analysis infinitesimalis logica, 1861. – Waffen, Kapital, Arbeit, 2. A. 1906. – Natürliche Dialektik, 1865. – Der Wert des Lebens, 1865; 6. A. 1902. – Krit. Grundlegung d. Volkswirtschaftslehre, 1866. – Krit. Geschichte d. Philos., 1869; 4. A. 1891. – Krit. Geschichte d. Nationalökonomie u. d. Sozialismus, 1871; 3. A. 1879. – Krit. Gesch. d. allgem. Prinzipien d. Mechanik. 1873; 3. A. 1887. – Kursus der National- u. Sozialökonomie, 1873: 2. A. 1876. – Kursus d. Philosophie,. 1875. – Logik u. Wissenschaftstheorie, 1878; 2. A. 1905. – Sache, Leben u. Feinde, 1882; 2. A. 1902. – Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres, 1883; 3. A. 1906. – Gesamtkursus d. Philos., 1894 ff. – Die Judenfrage, 1901. – Wirklichkeitsphilos., 1895. – Soziale Rettung durch wirkl. Recht, 1907. – Vgl. VAIHINGER, Hartmann, Dühring u. Lange, 1876. – FR. ENGELS, Herrn Dührings Umwälzung d. Wissenschaft. 1878; 5. A. 1904 (»Anti-Dühring«). – DRUSKOWITZ, E. D., 1889. – S. POSNER, Abriß d. Philos. E. D.s, 1906.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 140-141.
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