Henle, Friedrich Gustav Jacob

Henle, Friedrich Gustav Jacob
Henle, Friedrich Gustav Jacob

[716] Henle, Friedrich Gustav Jacob, der grosse Göttinger Anatom u. Patholog, geb. zu Fürth in Franken 19. Juli 1809 als Sohn jüdischer, später zum Christentum übergetretener Eltern, studierte seit 1827 in Bonn (bes. unter Joh. Müller) und Heidelberg, promovierte 1832 mit der Inaug.-Diss.: »De membrana pupillari, aliisqne oculi membranis pellucentibus«, besuchte hierauf zusammen mit Joh. Müller zwecks vergleich, anat. Studien im Jardin des plantes Paris und trat nach Absolvierung der Staatsprüfungen in Berlin hier 1834 bei seinem mittlerweile hierher in das Ordinariat für Anat. u. Physiol. berufenen Lehrer Joh. Müller als Prosektor ein. Infolge seiner Beteiligung an der Burschenschaftsbewegung, die ihm auch eine mehrmonatliche Haftstrafe in der Berliner Hausvogtei eingetragen hatte, verzögerte sich seine Habilitation bis 1837. Die zu diesem Zweck verfasste berühmte Schrift ist betitelt: »Symbolae ad anatomiam villorum intestinalium inprimis eorum epithelii et vasorum lacteorum«. 1840 folgte H. einem Ruf als Prof. d. Anat. nach Zürich, wo er auch noch die Physiologie vertrat und durch Publikation seiner »Allgem. Anat.« (Leipzig 1841) seinen Weltruf begründete. Hier rief er auch zusammen mit seinem Freunde, dem Kliniker Pfeuffer, 1844 die »Ztschr. f. rat. Med.« ins Leben, welche bis 1869 – nach Pfeuffer's Tod – fortgeführt wurde und neben Joh. Müller's, später Reichert's und du Bois-Reymond's Arch. und Virchow's Arch. zu den angesehensten Publikationen ihrer Art gehörte. 1844 siedelte H. als zweiter Prof. d. Anat. nach Heidelberg über, wo er neben Tiedemann dozierte und nach dessen 1849 erfolgter Emeritierung in die erste Professur und das Direktorat des anat. Instituts aufrückte. Endlich ging H. 1852 an Stelle des verstorb. älteren Langenbeck in gleicher Eigenschaft nach Göttingen,[716] wo er bis zu seinem 13. Mai 1885 erfolgten Ableben in der bekannten, überaus segensreichen Weise wirkte. Unstreitig zählt H. nicht bloss zu den bedeutendsten Anatomen, sondern auch überhaupt zu den hervorragendsten Medizinern des 19. Jahrh. Als Anatom hat er, abgesehen von einer anerkannten Lehr- und einer ausserordentlich umfassenden schriftstellerischen Thätigkeit sich unsterbliche Verdienste durch ebenso zahlreiche, wie gewichtige Entdeckungen erworben. Nach Waldeyer's schöner Darstellung in dem älteren Biogr. Lexikon gehören hierher »die Entdeckung des Cylinderepithels des Darmkanals und die Feststellung der Grenzen und der Verbreitung der verschiedenen Epithelien im tierischen Organismus, sowie des Zusammenhanges aller verschiedenen Epithelformen, des Verhaltens der zentralen Chylusgefässe, der inneren Wurzelscheide des Haares, der umspinnenden Fasern, die erste genauere Schilderung des feineren Baues der Hornhaut, die Entdeckung des Epithels (Endothels) der Blutgefässe, der gefensterten Gefässmembranen, der Leberzellen (gleichzeitig mit Purkinje), der nach ihm (Henle'sche Schleife) benannten schleifenförmigen Umbiegung der Nierenkanälchen, des ausschliesslichen Vorkommens von Zapfen in der Fovea centralis, bzw. Macula lutea der Netzhaut u.a.« Fast kein Kapitel der allgem. und spez. Anat. ist, wie man sieht, von H. ohne Neubearbeitung geblieben. Auch die Verbesserung der anat. Nomenklatur in einer Jahrzehnte lang gültigen und von den Fachgenossen als zweckmässig anerkannten Form ist eines der wesentlichsten Verdienste von H. Nicht minder hat er eine Fülle neuer Thatsachen für die Zootomie u. vergleich. Anat. geliefert. Ein Teil von H.'s Neuerungen ist in seinen, für alle Zeit nach Form und Inhalt klassischen Lehrbüchern »Systematische Anatomie«[717] (einem grossen in 3 Bdn. und einem Grundriss), sowie den dazu gehörigen Atlanten (Titelverzeichn. s. bei Waldeyer im älteren Lexikon) niedergelegt. H.'s Genialität und Universalität zeigte sich auch in seinen pathol. Forschungen, die gerade in den jüngsten Dezennien durch die Ergebnisse der bakteriol. Arbeiten besondere Bedeutung erlangt haben. H. ist es bekanntlich gewesen, der als einer der ersten mit der möglichsten Bestimmtheit die Behauptung aufgestellt und wahrscheinlich gemacht hat, dass den Infektionskrankheiten eine parasitäre Ätiologie zugrunde liegen müsse. Diesen Gedanken vertrat er zuerst in seinen denkwürdigen »Pathol. Unterstuchungen« (Berlin 1840), einer Publikation, deren buchhändlerischer Erfolg allerdings im direkten Gegensatz zu ihrer Bedeutung stand. Es wird behauptet, dass rob. Koch gerade von Henle'schen Ideen beeinflusst, seine berühmten Forschungen unternommen habe. H. verfasste auch ein grosses »Handbuch der rationellen Pathologie« (Braunschweig 1846 bis 53), das einen förderlichen Einfluss auf die Wendung in den Anschauungen um die Mitte des 19. Jahrh., spez. auf den Übergang in die exakte Richtung ausübte. – H's Leistungen erfuhren schon bei seinen Lebzeiten die gebührende Würdigung durch eine grosse Reihe äusserer Auszeichnungen, die philolog. Doktorwürde von der Univ. Breslau, die juristische (Dr. of common law) von Edinburg, die Mitgliedschaft zahlreicher gelehrter Gesellschaften. – Von seinen Schülern wurde der »alte Jacob«, wie er auch wohl genannt wurde, geradezu auf Händen getragen. Wie genial H. veranlagt war, zeigen die Mitteilungen, welche sein Schwiegersohn und Nachfolger auf dem Göttinger Lehrstuhl der Anatomie F. Merkel in einer schönen Biographie H.'s (Braunschweig 1891) aus dessen Kindheit und Jugendzeit gemacht hat. – Ausser bei Waldeyer l. c. sind die[718] H.'s Andenken zu Ehren erschienenen Nekrologe bei Pagel, histor.-med. Bibliogr. d. J. 1875 bis 96 (Berlin, 1898 p. 628) verzeichnet.

Quelle:
Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 716-719.
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