Natorp, Paul

[489] Natorp, Paul, geb. 1854 in Düsseldorf, Univ.-Prof. in Marburg.

N. ist einer der Hauptvertreter des Neukantianismus (»Marburgsche Schule«) in der Form des »methodischen Idealismus« (vgl. Cohen); auch ist er in manchem von Plato beeinflußt.

Die Psychologie hat nach N. die Aufgabe, aus den Objekten, welche durch Verarbeitung der subjektiven Erscheinungen zu allgemeingültigen Zusammenhängen entstanden sind, die ursprüngliche subjektive Erscheinung zu rekonstruieren, also die »Zurückleitung der bis zu einem gewissen Punkte durchgeführten Konstruktion des Gegenstandes bis auf die letzten erreichbaren subjektiven Quellen im unmittelbaren Bewußtsein, von denen sie ausgegangen war, gleichsam durch Umkehrung jenes ganzen Prozesses der Objektivierung«. Vom Bewußtseinsinhalt ist die Bewußtheit als »Beziehung auf das Ich« zu unterscheiden, so aber, daß beide nur eine auf zwei Weisen ausgedrückte Tatsache bezeichnen. Die begrifflich herausgehobene Bewußtheit allein ist leer, es ist daran nichts zu beschreiben, sie ist etwas Unableitbares. Eine besondere psychologische Kausalität existiert nicht. Das Denken ist aktive Bewußtseinstätigkeit. Der Wille ist »Zielsetzung, Vorsatz einer Idee, d.h. eines Gesollten«. Alle Tendenz ist »Tendenz zur Einheit«. Verstand und Wille sind zwei Richtungen desselben Bewußtseins. Das oberste Prinzip des Willens ist die »formale Einheit der Idee, nämlich das unbedingt Gesetzliche«. Die Stufen der Aktivität sind: Trieb, Wille, Vernunftwille. Der Wille selbst entscheidet auf Grund des Urteils durch eigene Gesetzlichkeit. Das Naturgesetz läßt das »Urteil des Willens frei«, richtend ist dann das »Gesetz der Idee«.

Logik und Erkenntnistheorie sind von der Psychologie unabhängig. Die Denkgesetze sind nicht Naturgesetze, auch nicht psychologische oder teleologische Gesetze, sondern sie besagen: Wenn man so und so denkt, so denkt man Wahres. Die apriorische Gewißheit gründet sich hier rein auf den Inhalt des Gedachten, ohne Rücksicht auf den psychologischen Denkvollzug. Die Erkenntnis (d.h. die »Ordnung der Erscheinungen unter Gesetzen«) hat apriorische Grundlagen, reine Setzungen, Methoden des Denkens, Ideen. »Die Idee sagt das Ziel, den unendlich fernen Punkt, der die Richtung des Weges der Erfahrung bestimmt; denn sie sagt das Gesetz ihres Verfahrens.« Durch das Grundgesetz des Bewußtseins ist »Einheit unbedingt« gefordert. Die Kategorien sind Formen des Gedachten, der Erkenntnisinhalte, logische Voraussetzungen und Grundlagen der Erfahrungsgegenstände und des exakten Wissens. Das Urteil ist nicht eine Zusammensetzung von Begriffen, sondern ein »Bestimmen«, mit dem erst Begriffe erstehen. Die Mathematik hat logische Grundlagen, ist logisch bedingt, nicht empirisch. Am Leitfaden der apriorischen Denkeinstellung auf unbedingte Einheit gestaltet die Wissenschaft methodisch in einem nie beendigten Prozesse die Welt der Objekte (Erscheinungen); das »Ding an sich« ist nur ein Grenzbegriff,[489] ein nie erreichtes Ideal einer Totalerkenntnis. Objekte sind die »Konstanten der Erkenntnis«, gesetzmäßige Zusammenhänge von Inhalten, auf die wir zuverlässig rechnen können, nicht transzendente Dinge. Der Gegenstand der Erkenntnis ist ein x, nie Datum, stets Problem. »Der Gegenstand ist nicht gegeben, sondern vielmehr aufgegeben; aller Begriff vom Gegenstand... muß erst sich aufbauen aus den Grundfaktoren der Erkenntnis selbst, bis zurück zu den schlechthin fundamentalen.«

Die Ethik behandelt N. formal nach deduktiv-kritischer Methode, inhaltlich im Geiste Kants, aber mit Modifikationen unter dem Einfluß Platos und mit. größerer Betonung der sozialen Seite des Ethischen. Die »Sozialpädagogik«, in welcher N. Ethik. Pädagogik und Sozialphilosophie vereinigt, ist »Theorie der Willensbildung« auf der Grundlage der Gemeinschaft und hat zum Problem die Wechselbeziehungen zwischen Erziehung und Gemeinschaft. Sie betrachtet die Erziehung als bedingt durch das Gemeinschaftsleben und als bedingend für dieses. »Durch Arbeit und Willensregelung zum Vernunftgesetz muß auch die Gemeinschaft fortschreiten.« Der Mensch wird zum Menschen allein durch menschliche Gemeinschaft. Jede menschliche Gemeinschaft ist Willensgemeinschaft. Die Materie der sozialen Regelung sind die »sozialen Arbeitstriebe« (nicht wie bei Stammler, von dem N. hier beeinflußt ist, die Wirtschaft). Das Richtmaß für die soziale Regelung gibt die soziale Vernunft ab. Es gibt so eine soziale Teleologie. Die drei Grundklassen sozialer Tätigkeit sind: Arbeit, Willensregelung, vernünftige Kritik. Sozialer Endzweck ist ein Leben, in dem die Vernunft herrscht, fortschreitende Vereinheitlichung zur vollen Befreiung der Individualitäten.

Wenn auch das Wollen des Guten individuell ist, so ist doch das Gute selbst überindividuell, das sittliche Bewußtsein kann sich nur in der Gemeinschaft bilden. Sittliches Bewußtsein ist Gemeinschaftsbewußtsein. Sittlichkeit besteht im vernünftigen Wollen, im Wollen der Einheit menschlicher Zwecke und allseitiger Entfaltung des Menschenwesens. Die Sittlichkeit des Individuums ist die Tugend, welche verschiedene Seiten und Richtungen hat; ihre ursprünglich zu unterscheidenden Seiten sind die Kardinaltugenden. Tugend im allgemeinen ist »die rechte, ihrem eigenen Gesetz gemäße Beschaffenheit menschlicher Tätigkeit«. Die Kardinaltugenden sind: Wahrheit (Tugend der Vernunft), Tapferkeit oder sittliche Tatkraft (Tugend des Willens), Reinheit oder Maß (Tugend des Trieblebens), Gerechtigkeit (= der Inbegriff der drei anderen Tugenden im Verhältnis zur Gemeinschaft). Die Tugenden der Gemeinschaft sind Anwendungen der individuellen Tugenden auf das Gemeinschaftsleben. Die soziale Tugend besteht im normalen Verhältnis der drei Grundfaktoren der wirtschaftlichen, regierenden, bildenden Tätigkeit.

Die Religion beruht auf dem Gefühl, der Grundlage von Erkenntnis, Wille und Phantasie, dem objektlosen Bewußtsein. Die Unendlichkeit des Gefühls wird in der Religion zum Gefühl der Unendlichkeit und Ewigkeit, hat aber keinen Gegenstand. Das Unbedingte ist nirgends als Gegenstand gegeben, nur als Willensziel, als unbedingtes Seinsollendes liegt es vor uns, als das Unwandelbare, Ewige, absolut Gültige. Der Kern der Religion ist die[490] Idee des Menschentums auf Grundlage des sittlichen Gemeinschaftsbewußtseins, wobei der symbolische Wert positiv-religiöser Vorstellungen erhalten bleibt.

SCHRIFTEN: Descartes' Erkenntnistheorie, 1882. – Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum, 1884. – Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, 1888. – Über die logischen Grundlagen der neueren Mathematik, Archiv für systemat. Philos., VII. – Die Ethica des Demokritos, 1893. – Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, 1894; 2. A. 1908. – Pestalozzis Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage, 1894. – Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik, 1895. – Grundlinien einer Theorie der Willensbildung, Archiv für system. Philosophie I – III, 1895-97. – Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungslehre, 1899. – Sozialpädagogik, 1898; 2. A. 1904; 3. A. 1909. – Platos Ideenlehre, 1903 (N. faßt die »Ideen« nicht als metaphysische Wesenheiten, sondern als apriorische Denkgebilde, als »Grundlagen« der Erkenntnis auf). – Philosophische Propädeutik, 1903: 3. A. 1909. – Allgemeine Psychologie, 1904; 2. A. 1910. – Logik, 1904. – Allgemeine Pädagogik, 1905. – Pestalozzi, Leben und Wirken, 1905. – Jemand und Ich, ein Gespräch über Monismus, Ethik und Christentum, 1906. – Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik, 1907. – Philosophie und Pädagogik, 1909. – Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, 1910. – Philosophie, 1911, u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 489-491.
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