Sigwart, Christoph von

[677] Sigwart, Christoph von, geb. 1830 in Tübingen, seit 1865 Prof. in Tübingen, gest. 1904.

S. ist besonders durch seine Logik von Bedeutung. Die Logik fußt auf der Psychologie, ist selbst aber eine normativ-teleologische »Kunstlehre des Denkens« (eine Art »Ethik« des Denkens), welche die »Kriterien des wahren Denkens« feststellen und zu allgemeingültigen und gewissen Sätzen führen soll. Der Hauptteil der Logik ist die Methodenlehre. Diese gibt Anweisung zu dem Verfahren, mittels dessen »von einem gegebenen Zustande unseres Vorstellens und Wissens aus durch Anwendung der uns von Natur zu Gebote stehenden Denktätigkeiten der Zweck, den das menschliche Denken sich setzt, in vollkommener Weise, also durch vollkommen bestimmte Begriffe und vollkommen begründete urteile erreicht werden könne«. Sie hat »die Tragweite, die Grenzen der Anwendung und die Bedeutung« der Ergebnisse der Forschungsmethoden zu bestimmen.

Das Denken ist jene Geistestätigkeit, deren Zweck Erkenntnis des Seienden ist. Das Denken entspringt dem »Denken-wollen« und will notwendig und allgemein sein. Die Denkgesetze sind die ersten und unmittelbaren Ergebnisse einer auf die Denktätigkeit selbst gerichteten, sie in ihren Grundformen erfassenden Reflexion. Das Identitätsprinzip ist die Forderung alles wahren Urteilens, da die Konstanz unserer einzelnen Vorstellungsinhalte eine Bedingung alles Denkens ist. Voraussetzung der Bildung der Begriffe ist die Analyse der Vorstellungen in einfache Elemente und die rekonstruierende Synthese aus diesen. Die obersten Begriffe (logischen Kategorien) sind: Ding, Eigenschaft, Tätigkeit und Beziehung. Durch das Urteil werden zwei Vorstellungen »in eins gesetzt«; in jedem vollendeten Urteil liegt das Bewußtsein der objektiven Gültigkeit dieser Ineinssetzung, beruhend auf der Notwendigkeit derselben. Die einfachen Urteile zerfallen in erzählende und erklärende Urteile. Die Negation richtet sich gegen den Versuch einer Synthese im Urteil, sie ist ein Urteil über ein Urteil, das nicht vollzogen werden darf. Im hypothetischen Urteil ist das Prädikat die notwendige Folge. Ein Schließen findet da statte wo wir zum Glauben an die Wahrheit eines Urteils durch den Glaubten an die Wahrheit eines oder mehrerer anderer Urteile bestimmt werden. Der Induktionsschluß ist eine Umkehrung des Syllogismus; er setzt den Trieb nach Generalisation jedes Satzes voraus. Das Induktionsverfahren beruht auf dem[677] Postulat, »daß das Gegebene notwendig sei und als nach allgemeinen Regeln aus seinen Gründen hervorgehend erkannt werden könne«.

Das Denken messen wir an einem Zwecke, und wir sind überzeugt, daß es dazu da ist, die Wahrheit zu finden. Der Denkende muß voraussetzen, daß seine eigene geistige Organisation auf Erkenntnis der Wahrheit angelegt ist und daß darum auch die Natur der Dinge darauf angelegt ist, erkannt zu werden. Denken und Sein müssen einen einheitlichen Grund haben. Die Anschauungsformen (Raum und Zeit) sind Produkte der notwendigen Verknüpfungstätigkeit des Bewußtseins und haben eine objektive Grundlage. Die Kategorien enthalten ebenfalls einen apriorischen Faktor. Der Ding-Vorstellung liegt zuerst die einheitliche Zusammenfassung einer im Raum abgegrenzten und dauernden Gestalt, also eine räumliche und zeitliche Synthese zugrunde. Die Annahme einer außer uns existierenden Welt ist eine durch »unbewußte Denkprozesse« erst irgendwie abgeleitete. Die Kontinuität des Denkens drängt zur Setzung der Substanz als strenger fester Einheit. Die Kausalität beruht auf der Forderung, »daß, was wir als seiend denken, aus einem Realgrund seines Seins und So-Seins als notwendig begriffen werde«. »Ursachen« sind die Dinge mit ihren Eigenschaften oder Kräften, die kraftbegabten Substanzen; die wechselnden Verhältnisse sind nur »Bedingungen«. Das metaphysische Element, das »Wirken eines Dinges auf andere«, können wir nicht entbehren. Ein Musterfall aller Kausalität sind die Wechselbeziehungen zwischen uns und der Außenwelt.

Die Ungleichartigkeit des Psychischen und Physischen verhindert eine Wechselwirkung zwischen beiden ebensowenig wie das Energiegesetz; der psychophysische Parallelismus ist »weder durch den Begriff der Kausalität noch das Prinzip der Erhaltung gefordert«. Die Seele ist zwar nicht absolut einfach und unveränderlich, aber doch Substanz als identisches, bleibendes, tätiges Subjekt des Bewußtseins, »das als mit sich eins bleibend den gemeinsamen Grund der in der Zeit kontinuierlich folgenden Veränderungen bildet«. Es gibt nur Einzelseelen, die von der Gemeinschaft, in der sie leben, abhängig sind, keinen Gesamtgeist u. dgl. Eine teleologische Weltanschauung ist mit der kausalen durchaus vereinbar. Während man bei der kausalen Betrachtung von der Ursache zur Wirkung (synthetisch) geht, schreitet man bei der teleologischen umgekehrt (analytisch) vor. Wenn dieser Erfolg herauskommen sollte, so mußten die Ursachen so und so beschaffen sein. »So ist die teleologische Betrachtung eine Aufforderung, die kausalen Beziehungen nach allen Seiten zu verfolgen, durch welche der Zweck verwirklicht wird. Sie hat die Bedeutung eines heuristischen Prinzips.« Hätten wir eine durchgängige Einsicht in den Kausalzusammenhang der Welt, so würden sich die kausale und teleologische Betrachtungsweise vollkommen decken (vgl. Kant, Lotze, Wundt u. a.). S. schließt mit dem Hinweise auf die Möglichkeit einer (kritischen) Metaphysik, als Wissenschaft, welche »einerseits die letzten Voraussetzungen, von denen alles planmäßige Denken ausgeht, anderseits die Resultate, zu denen dieses gelangt, in einer einheitlichen Auffassung von dem letzten Grunde des Verhältnisses[678] der subjektiven Gesetze und Ideale des Denkens und Wollens zu dem objektiven Inhalte der Erkenntnis zusammenzubringen hat«. Ihr höchstes Problem ist die Bestimmung des »Verhältnisses, in welchem die Notwendigkeit als Leitfaden aller Erkenntnis des Seienden zu der Freiheit steht, welche das subjektive Postulat des bewußten Wollens ist«.

Aufgabe der Ethik ist es, einen allumfassenden, in sich einstimmenden Zweck: so zu konstruieren, daß seine Erreichung von den gegebenen Bedingungen aus möglich ist. Der Formalismus in der Ethik ist undurchführbar. Die Ethik S.s ist eudämonistisch, aber mit Betonung auch der sozialen Ethik und des Altruismus.

SCHRIFTEN: U. Zwingli, 1855. – Logik, 1873 f.; 2. A. 1889-93; 3, A. 1904. – Beiträge zur Lehre vom hypothetischen Urteil, 1879. – Kleine Schriften 1881; 2. A. 1889; 3. A. 1904. – Vorfragen der Ethik, in der Zeller-Festschrift, 1886. – Ein Collegium logicum im 16. Jahrh., 1890. – Die Impersonalien, 1888. – Vgl. J. ENGEL, S.s Lehre vom Wesen des Erkennens, 1908.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 677-679.
Lizenz: