Ludwig, Karl Friedr. Wilhelm

Ludwig, Karl Friedr. Wilhelm
Ludwig, Karl Friedr. Wilhelm

[1055] Ludwig, Karl Friedr. Wilhelm, der berühmte Physiolog, 29. Dez. 1816 zu Witzenhausen geb., studierte in Marburg und Erlangen, wurde 1839 in Marburg Doktor, 1841 zum 2. Prosektor an der dortigen anat. Anstalt ernannt, habilitierte sich 1842 daselbst für Physiologie, wurde 1846 Prof. e. o. für vergl. Anatomie, 1849 als ord. Prof. der Anatomie und Physiologie nach Zürich berufen, folgte 1855 einem Rufe nach Wien als Prof. der Physiologie und Zoologie am Josephinum und übernahm schliesslich 1865 an der Univ. Leipzig die Professur der Physiologie gleichzeitig mit der Leitung der physiol. Anstalt, die durch ihn und seine zahlreichen Schüler aus allen Teilen der Welt zu so grosser Berühmtheit gelangt ist. Er starb 24. April 1895. – Unter den Physiologen der Neuzeit steht L. neben Joh. Müller und dessen Schülern in vorderster Reihe. Es giebt kaum ein Gebiet der Physiologie, das von L. nicht mit wichtigen Untersuchungen und Entdeckungen bereichert worden ist. Wenn es ein Hauptverdienst der Medizin in der 2. Hälfte des 19. Jahrh. ist, mit der Inaugurierung der exakten Untersuchungsmethoden gleichzeitig die ältere hypothetische[1055] Lehre vom Vitalismus definitiv beseitigt zu haben, so gebührt ein umfassender Anteil hieran gerade L. Was Brücke, du Bois-Reymond, Helmholtz und Genossen für das Gebiet der Muskel- und Nervenphysiologie versucht und geleistet haben, den Nachweis nämlich, dass alle Phänomene lediglich auf physik. u. chem. Vorgänge zurückzuführen und mit denselben Methoden wie diese zu erforschen seien, das hat L. zunächst an den Vorgängen der Harnabsonderung gezeigt. Schon in seiner Habilitationsschrift: »Beiträge zur Lehre vom Mechanismus der Harnabsonderung« (Marburg 1842) begründete er eine rein physik. Theorie, die er in einer weiteren, aus exakten physik. Untersuchungen hervorgegangenen Arbeit »Über endosmotische Aequivalente u. endosmotische Theorie« (Ztschr. f. rat. Med. VIII, Poggendorff's Annalen 1849) näher entwickelte und welche er auch in einer unter seiner Leitung von Cloëtta (1851) erfolgten Veröffentlichung später endgültig erhärtete. – Andere, nicht minder bahnbrechende Arbeiten L.'s betreffen die Lehre von der Blutbewegung. Auf diesem Gebiete wurde L. der Schöpfer der graph. Methoden in der Physiologie. Er erfand und beschrieb 1847 in Joh. Müller's Arch. das Kymographion, führte in der zus. mit J. Stefan veröffentl. Schrift: »Über den Druck, den das fliessende Wasser senkrecht zu einer Stromrichtung ausübt« (Sitzungsberichte d. Wien. Akad. d. Wiss. 1858) die Vorgänge der Cirkulation auf die Gesetze der Hydrodynamik zurück und stellte im Verein mit mehreren Schülern (Thiry u.a.) namentlich den Einfluss fest, den die Athmung und das Nervensystem auf den Blutstrom im Tierkörper besitzen. Die Ergebnisse dieser Forschungen fasste er in der Abhandlung: »Über den Einfluss des Halsmarks auf den Blutstrom« (zus. mit Thiry, Ib. 1864), sowie in der beim Antritt seiner Professur in Leipzig gehaltenen[1056] Rede: »Die physiolog. Leistungen des Blutdrucks« zusammen. Auch, diese Arbeiten, die in späteren Untersuchungen von L.'s Schülern, von Dittmar über den Sitz des Gefässnervenzentrums in dem verlängerten Mark, 1873, von Mosso, welcher selbständige Bewegungen peripherer Blutgefässbezirke in der Niere plethysmographisch registrierte, 1874, von E. Cyon, mit dem zus. L. den N. depressor beim Kaninchen entdeckte, ihre Ergänzung fanden, wurden für die Beseitigung des Vitalismus massgebend. Mit Hilfe einer von L. bereits 1865 in der oben erwähnten Antrittsrede angedeuteten Methode zur Untersuchung »überlebender Organe«, d.h. durch künstliche Cirkulation vom Tiere getrennte Teile funktionsfähig zu erhalten, entdeckte er wichtige Eigenschaften der Herzmuskulatur, von Leber, Darm, Niere etc. Aus einer früheren Schaffenszeit L.'s rühren noch seine höchst wichtigen Untersuchungen über die Drüsenthätigkeit her, besonders diejenige der Speicheldrüsen, von denen er im Verein mit mehreren Schülern den Beweis erbrachte, dass die Absonderung selbständig ohne Hilfe des Blutdrucks stattfindet. Die bezügliche grundlegende Publikation L.'s erfolgte bereits 1851 in der Ztschr. f. rat. Med. und ist betitelt: »Neue Versuche über die Beihülfe der Nerven zur Speichelabsonderung«. Von den Leistungen L.'s und seiner Schüler auf den übrigen Teilgebieten der Physiologie giebt Kronecker im älteren Biogr. Lex. eine treffliche Zusammenstellung. Danach verdankte auch die allg. Muskel-, sowie Nervenphysiologie L.'s Schülern wichtige Aufschlüsse; in der Physiologie des Gesichtssinnes, des Gehörs und des Tastgefühls sind, unter seiner Teilnahme und Anregung, wertvolle Arbeiten entstanden. Aus dem Gebiete der physiol. Chemie bestimmte unter seiner Leitung Cloëtta das Vorkommen von Inosit, Harnsäure etc. im tierischen Körper (1856); Kalk und Phosphorsäure im Blutserum liess L. nach einer neuen Methode messen (1871), Zusammensetzung und Schicksal der in das Blut eingetretenen Nährfette untersuchen (1874), den Unterschied der Harnstoffausscheidung beim Hunde nach Fütterung und nach Transfusion von Blut bestimmen (1874), das Verhältnis der mit Eiweiss verzehrten Schwefelmenge zu der[1057] durch die Galle ausgeschiedenen eruieren (1875), den Fettstrom durch den Brustgang nach Fettgenuss messen (1876); er liess nachweisen, dass das verdaute Eiweiss nicht durch den Brustgang in das Blut zu gelangen braucht u.s.w. Die zahlreichen Publikationen L.'s und seiner Schule sind in den verschied. Zeitschriften erfolgt, von denen Kronecker (l. c.) eine Übersicht gegeben hat. In seinem Hauptwerk: »Lehrbuch der Physiologie des Menschen« (Leipz. 1852 bis 56, 2 Bde., 2. Aufl. Leipz. u. Heidelberg 1858 bis 61) hat L. bereits mit programmat. Schärfe als Grundsatz, der ihn bei seinen wissenschaftl. Arbeiten leitete, die Notwendigkeit und Möglichkeit betont, alle biol. Phänomene mit den Methoden exakter Forschung klar zu legen und auf dieselben Gesetze zurückzuführen, welche auch für die chem. und physik. Vorgänge massgebend sind, d.h. mit einem Wort, die Physiologie als die Wissenschaft von der Physik und Chemie des tier. Organismus zu begründen.

Quelle:
Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 1055-1058.
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