Rokitansky, Karl

Rokitansky, Karl Freiherr von
Rokitansky, Karl Freiherr von

[1403] Rokitansky, Karl Freiherr von, der berühmte pathol. Anatom, geb. 19.[1403] Febr. 1804 zu Königgrätz in Böhmen, studierte Med. in Prag und Wien, ward an letzterem Orte 1827 2. Assistent an der pathol.-anat. Lehrkanzel, 1828 Dr. med. und 1. Assistent, 1834, nach Johann Wagner's Tode, Prosektor des Wiener allgem. Krankenhauses und a. o. Prof. der pathol. Anat., 1844 ord. Prof. dieses, im selbigen Jahre zum obligaten Lehrgegenstande erhobenen Faches, 1863 Referent der med. Studien mit dem Titel eines Hofrates, 1867 lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses, 1869 Präsident der Wiener Akad. der Wissensch., der er schon seit 1848 als wirkl. Mitglied angehörte, 1870 Mitglied der Pariser Akad. der Wissensch. und Präsident des Wiener anthropolog. Vereins, wie er schon lange vorher zum Präsidenten der Wiener Gesellschaft der Ärzte gewählt worden war. Er entsagte 1875, nachdem er das 70. Jahr, die gesetzliche Altersgrenze für die Funktion österr. Professoren, überschritten, der Lehrkanzel und starb 23. Juli 1878 in einem Anfalle von Asthma, das den sonst geistig und körperlich ungeschwächten Mann in den letzten Jahren häufiger heimgesucht hatte. Unter den von ihm veröffentlichten Schriften, welche im älteren Lexikon zusammengestellt sind, ist unzweifelhaft die bedeutendste, durch die sich R. ein bleibendes Verdienst erworben hat, der spez. Teil seines »Handbuch der pathol. Anatomie« (3. Bd. 1841; 2. 1844; 1. Bd. 1846), die allgem. pathol. Anatomie umfassend, später vollkommen umgearbeitet und mit Illustrationen ausgestattet (3 Bde., 1855). Noch nie waren die makroskop.-anat. Veränderungen des kranken menschl. Körpers, besonders hinsichtl. der Struktur, ihrer Zusammengehörigkeit, ihrer Entwicklungs- und Umwandlungs-Stadien, ihrer Häufigkeitsverhältnisse so systematisch und erschöpfend untersucht worden, noch nie waren solche Untersuchungen mit Zugrundelegung eines so reichen Beobachtungsmaterials angestellt worden, nie waren die Beobachtungsresultate in einer so lebendigen, markigen, präzisen, durch Hervorhebung des Charakteristischen auch dem Anfänger das Selbststudium ermöglichenden Sprache geschildert worden. Mit Recht nannte darum Virchow R. den Linné der pathol. Anatomie und tadelte am speziellen Teile nur die Spärlichkeit[1404] der litter.-histor. Nachweise, die leicht zum Dogmatismus führende Zurückhaltung in der Begründung des Behaupteten, Fehler, die wir einigermassen durch das Streben nach Kürze und eine gewisse Opposition gegen die tote Buchgelehrsamkeit eines Voigtel, gegen die allzu breit ausgesponnenen Erwägungen eines Morgagni erklären und entschuldigen möchten. Nach Mitteilungen Stricker's an Scheuthauer aus der unvollendeten Selbstbiographie R.'s, bezeichnete R. in derselben Joh. Friedrich Meckel, Lobstein und Andral als diejenigen Autoren, durch die ihm in der pathol. Anat. die ersten Anregungen geworden; seinem Lehrer Johann Wagner dürfte er eine tüchtige Sektionstechnik, den Eifer für Herstellung eines Museums, das Streben nach genauerer Beschreibung verdankt haben. Wenn aber ein weitverbreitetes Gerücht behauptet, R. hätte die hinterlassenen Vortragshefte Wagner's, wie Everard Home diejenigen John Hunter's, in unerlaubter Weise benutzt, so lehrt ein Blick auf die veröffentlichten Arbeiten Wagner's den völligen Ungrund einer solchen Behauptung. Obwohl R. 1841 schon über 16000, von ihm und seinen Assistenten nach einheitlichem Plane verf. Protokolle gebot (eine Zahl, die bis zum Ende seiner Laufbahn auf mehr als 100000 anschwellen sollte), hätte er doch, wie Scheuthauer persönl. von R. erfahren hat, noch lange die Herausgabe des Handbuchs hinausgeschoben, wäre ihm nicht die Kunde geworden, dass Kolletschka, Prof. der gerichtl. Med., sein eifriger, in die meisten seiner Beobachtungen eingeweihter Schüler, ihm mit Veröffentlichung eines ähnlichen Werkes zuvorkommen wollte. Grund dieses so vereitelten Zögerns war offenbar die Ahnung, dass die vorhandenen Erfahrungen und Methoden zur Schaffung einer allgemeinen pathol. Anatomie ungenügend seien, eine Ahnung, deren Richtigkeit sich nur zu sehr bewähren sollte und ihren Ausdruck in den später als irrtümlich[1405] widerrufenen Hypothesen R.'s von den verschiedenen Crasen, von den verschiedenen Erkrankungen des Faserstoffes und Eiweisses fand. Obwohl R. erst im 39. Lebensjahre zum Mikroskop griff, seine histolog. Technik immer höchst einfach blieb, so hat er doch gleichzeitig mit Reinhardt, aber unabhängig von ihm, in die schwankenden Ansichten Jul. Vogel's über die Entwicklung der Körnchenzellen aus Eiterzellen Klarheit gebracht und war einer der ersten, welche im Carcinoma reticulare Joh. Mueller's keine selbständige Krebsart, sondern nur Auftreten von Fett in einem gewöhnlichen Krebse, freilich gleich Lebert nur als Folge einer angeblichen Entzündung, sahen; ebenso erkannte er den Cancer aréolaire pultacé Cruveilhier's als fetthaltigen Gallertkrebs und hat gewisse Epithelneubildungen, manche Zotten-Hypertrophien Andral's zuerst den Krebsen eingereiht. Seine bedeutendsten histologischen Untersuchungen finden sich in der 1854 erschienenen Schrift: »Über das Auswachsen der Binde-Gewebssubstanzen« und in der 1857 veröffentlichten: »Über Bindegewebswucherung im Nervensysteme«. In der ersten Abhandlung zeigt R., dass die endocarditischen Vegetationen, die Pseudomembranen seröser Häute nicht, wie selbst Virchow, obwohl schon zweifelnd, noch für möglich hielt, durch Umwandlung des fibrinösen Exsudates hervorgehen, sondern aus den Bindegewebslagen selbst hervorwachsen. Die kurz vorher veröffentlichte, jedoch schon 1853 niedergeschriebene Entdeckung Virchow's von einer das Gehirn durchsetzenden Bindesubstanz ergänzte R. durch Auffindung eines die Hirnrinde deckenden, später von Hans Gierke bestätigten äusseren Ependyms, er nahm vorweg die von Virchow in Aussicht gestellten patholog. Veränderungen der Neuroglia, indem er die Wucherung derselben als das Wesentliche der Hirnhypertrophie darstellte, von ihr[1406] die Zähigkeit und Retraktion des atrophischen Gehirns, die Kapseln und Narben nach Apoplexie, Schwielen, Sarcome, Fibrome, Lipome, die ohne Entzündung sich bildenden Callositäten des Gehirnes ableitete, sie als dasselbe Gewebe erkannte, das den chronischen Atrophien und schwieligen Degenerationen des Rückenmarks, der grauen Degeneration des Sehnerven zu Grunde liegt. Was er damals nur in den Hauptumrissen gegeben, ward in der zweiten Schrift weiter ausgeführt, namentlich wurde die Bindegewebswucherung bei Paraplegie, bei traumat. und spontanem Tetanus, bei Chorea, beim paralyt. Blödsinne, in den spinalen Nerven, im N. opticus und olfactorius nachgewiesen. – R. entwickelte als akad. Redner ein bedeutendes Talent zur philosophischen Speculation. Eine Würdigung dieser Seite von R. findet sich in der klassischen Biographie R.'s v. Scheuthauer im alten Lexikon. – Obgleich R. bei feierlichen Reden die Vortragskünste des Redners nicht vermissen liess, wie denn auch seine Demonstrationen frischer Präparate vortrefflich waren, so litten doch seine gewöhnlichen theoret. Vorträge durch die Schwäche und fast gesuchte Eintönigkeit der Stimme; er sprach wie jemand, der eine Anekdote erzählt, von der er fürchtet, dass sie einem Teile der Hörer schon bekannt sei. – Als Medizinalreferent hat er die Errichtung und zweckmässige Einrichtung der med. Fakultäten zu Innsbruck und Graz wesentlich gefördert und, wie er schon in jungen Jahren für die segensreiche Berufung Skoda's auf den Lehrstuhl der inneren Klinik mit ebensoviel Begeisterung als Erfolg gewirkt, so berief er nun Billroth nach Wien, Klebs und Breisky nach Prag, übergab Theodor Meynert das Leichenmaterial der Irrenanstalten, schuf ihm die erste psychiatrische Klinik in Österreich und Stricker das Institut für experiment. Pathologie. Er selbst hatte erst 1862 die Holzschuppen ähnlichen, allem Unwetter preisgegebenen Kämmerchen, die bis dahin als Leichen- und Sektionslokale dienten, die dunklen Spitalgänge, in denen das an Seltenheit und Schönheit der Präparate unübertroffene, zum weitaus grössten Teile erst von ihm geschaffene pathol.-anat. Museum aufgestellt gewesen, mit[1407] einem stattlichen Gebäude vertauschen, eine Erhöhung der Instituts-Dotation von 300 fl. auf 600 fl. erlangen können. – Als Mitglied des Herrenhauses hat er seinen Freisinn wiederholt bewährt, am glänzendsten in jener formvollendeten, von feinster Ironie gewürzten Rede, worin er Trennung der Schule von der Kirche forderte. – Unter den vielen Auszeichnungen, welche ihm von nah und fern der 70. Geburtstag brachte, war auch seine Erhebung in den Freiherrenstand. – R. war ein unermüdlicher und scharfer Beobachter; bei scheinbarer Insichversunkenheit war er schlicht, fern von jedem Gelehrtendünkel und Prunken mit Geist und Wissen, ernst und wortkarg, was jedoch Blitze eines den Kern der Sache unfehlbar treffenden Humors, ja den Geschmack am Burlesken nicht ausschloss.

Quelle:
Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 1403-1408.
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