Kirchmann, Julius Heinrich von

[351] Kirchmann, Julius Heinrich von, geb. 1802, Gerichtspräsident, verlor wegen radikaler Anschauungen sein Amt, gest. 1884 in Berlin.

K. ist ein Gegner des Idealismus wie des Materialismus, des Apriorismus wie des Sensualismus. Sein Standpunkt ist der des »Realismus« und rationalen Empirismus. Die Philosophie ist diejenige Wissenschaft, welche die höchsten Begriffe und Gesetze des Seins und des Wissens zu ihrem Gegenstande hat. Erkannt wird das Sein nicht durch reines Denken, sondern durch die Wahrnehmung vermittelst des die Widersprüche der Vorstellungen entfernenden Denkens. Wissen und Sein sind ihrem Inhalte nach identisch, nur der Form nach verschieden. »Im Gegenstand ist der Inhalt in der Seins-Form befaßt, in der Vorstellung in der Wissens-Form.« Das Seiende besteht außerhalb des Wissens und der Wahrnehmung, unabhängig von ihr, und das sich Widersprechende kann nicht sein oder als eines gedacht werden – das sind die Fundamentalsätze des »Realismus«. Alle Wahrnehmungsvorstellungen haben miteinander gemein, »daß sie 1. ihren Inhalt als einen seienden setzen, 2. daß sie das Seiende außerhalb der Wahrnehmung setzen, 3. daß sie den Inhalt der Wahrnehmung als gegeben und nicht von der wahrnehmenden Seele erzeugt annehmen und 4. daß sie diesen Inhalt als einen einigen setzen, in dem die Unterschiede erst als das Spätere hervortreten«. Den Gegenstand der inneren »Selbstwahrnehmung« bilden die »seienden Zustände« der eigenen Seele, deren Gefühle und Begehrungen. Das Denken ist Vorstellen, sonderndes, verbindendes, beziehendes Denken. Den Begriffen entspricht je ein Stück der Wirklichkeit. Die Beziehungen hingegen sind nicht Bilder von Seiendem, sondern nur ideell. Rein subjektiv sind die Gefühle; sie sind die Ziele des Begehrens, die Triebfedern des Willens.[351]

Die Ethik K.s ist »heteronom« und »autoritativ«, auf das Gefühl der. »Achtung« begründet. Die sittlichen Gefühle sind Achtungsgefühle. Das Gefühl der Achtung knüpft sich an die Vorstellung eines Gebotes und entsteht nur »gegenüber einer Macht und Kraft, in Vergleich, mit welcher die Kraft des einzelnen Menschen verschwindet«, also einer Autorität gegenüber. Das Sittliche ist ein Gebotenes, das für den Menschen gilt, nur weil es von der Autorität geboten ist, für die es selbst kein Sittliches gibt. Das Sittliche ist historisch geworden und ändert sich mit der Macht, den Motiven der Autoritäten. – Auch die Ästhetik gründet K. auf das Gefühl. Das Schöne ist das idealisierte, sinnlich angenehme Bild eines seelenvollen Realen.

Von Kirchmann beeinflußt ist H. Wolff.

SCHRIFTEN: Die Philosophie des Wissens, 1864 (Hauptschrift). – Die Lehre vom Vorstellen, 1864. – Über die Unsterblichkeit, 1865. – Die Lehre vom Wiesen, 4. A. 1886. – Ästhetik, 1868. – Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral, 2. A. 1873. – Über die Prinzipien des Realismus, 1875. – Die Bedeutung der Philosophie, 1876. – Über den Kommunismus in der Natur, 3. A. 1880. – Über die Wahrscheinlichkeit. 1880. – Katechismus der Philosophie, 3, A. 1888, u. a. – Ferner verschiedene Übersetzungen in der von K. (1868) begründeten »Philos. Bibliothek«. – Vgl. LASSON und MEINEKE, J. H. v. K., 1885. – E. Y. HARTMANN, J. H. T. K.s erk. Realismus, 1875.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 351-352.
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