Ueberweg, Friedrich

[772] Ueberweg, Friedrich, geb. 1826 in Leichlingen bei Solingen, 1852 Privatdozent in Bonn, 1862 a. o., 1867 o. Professor in Königsberg, gest. daselbst 1871.[772] Ueb. ist von Beneke, dann von Schleiermacher und Trendelenburg, zuletzt von Czolbe beeinflußt. Er vertritt einen »Ideal-Realismus«, nach welchem die Wahrnehmungsinhalte subjektive Zeichen der realen Vorgänge sind. Die sinnlichen Qualitäten stehen mit bestimmten Bewegungen als deren Symbole in einem gesetzmäßigen Zusammenhange. Die Anschauungsformen (Raum und Zeit) sind das »gemeinsame Resultat subjektiver und objektiver Faktoren«. Die eigene raum-zeitliche Ordnung der Dinge spiegelt sich in den Anschauungsformen ab. Raum und Zeit können nicht subjektiv sein, da die Empfindungen auf Bewegungen beruhen. Die Gültigkeit der mathematisch-physikalischen Gesetze für die reale Welt setzt die Objektivität von Raum und Zeit voraus. Die Anschauungsformen sind nicht apriorisch, sondern empirisch gewonnen, die geometrischen Axiome werden durch die Erfahrung in ihren Konsequenzen fortlaufend bestätigt. Die Kategorien sind ebenfalls weder apriorisch noch rein subjektiv; das Wesentliche der Dinge wird durch die Erkenntnis des Wesentlichen in uns erkannt. Die Wahrnehmung richtet sich auf ein Objektives außer ihr, nicht auf die Empfindungen, die wir erst auf ein Objekt beziehen, objektiv deuten. Die innere Wahrnehmung bedarf keiner subjektiven Anschauungsform, sondern erfaßt ihren Gegenstand, das Seelische, unmittelbar und real, an sich.

Mit der auf mittelbare Erkenntnis gerichteten Tätigkeit, dem Denken, befaßt sich die Logik, welche die Mitte halten soll zwischen der formalistischen Logik (Kant, Herbart u.a.) und der metaphysischen Logik (Hegel), welche die Denkformen unmittelbar als Seinsformen auffaßt, statt sie (wie Aristoteles, Schleiermacher, Trendelenburg u.a.) als subjektive, durch die Ordnung der Dinge mitbedingte Korrelate der letzteren zu betrachten. Die Logik ist die »Wissenschaft von den normalen Gesetzen der menschlichen Erkenntnis«, der »Inbegriff der Normen und als Kunst die richtige Anwendung der Normen, denen die subjektive Erkenntnistätigkeit sich unterwerfen muß, um ihr Ziel zu erreichen, welches in der Erhebung des Seins zum Bewußtsein, in der Übereinstimmung unserer subjektiven Gedanken mit der objektiven Realität liegt«. Das Denken spiegelt die innere Ordnung, welche der Äußeren zugrunde liegt. Der Begriff ist jene Vorstellung, in welcher die Gesamtheit der wesentlichen Merkmale der betreffenden Objekte vorgestellt wird. Das Urteil ist das Bewußtsein über die objektive Gültigkeit einer subjektiven Verbindung von Vorstellungen. Der Schluß ist die Ableitung eines Urteils aus irgendwelchen gegebenen Elementen. Die Wahrheit besteht in der Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein.

In seinem (dem Materialismus sich nähernden) Entwurfe einer Psychologie faßt Ueb. die Vorstellungen selbst als ausgedehnt auf, die in der ebenfalls ausgedehnten Seele sich befinden; die Seele reicht soweit wie das Universum. Alles Seiende ist materiell. Die Körper haben »innere Zustände«, welche im Gehirn als Vorstellungen auftreten. Später betrachtet Ueb. die Materie als aus an sich existierenden Empfindungsinhalten bestehend, welche ausgedehnt sind. In bezug auf die Weltordnung ist Ueb. Teleolog.

Die sittliche Norm tritt als apodiktische Forderung auf und lautet:[773] »Trage innerhalb der Grenzen deiner Befähigung soviel, wie du vermagst, zur Lösung der Gesamtaufgabe der Menschheit bei.«

Schriften: Die Entwicklung des Bewußtseins durch den Lehrer und Erzieher, 1853 (von Beneke beeinflußt). – System der Logik, 1857; 5. A., hrsg. von J. B. Meyer, 1882. – Untersuchungen über die Echtheit u. Zeitfolge Platonischer Schriften u. über die Hauptmomente aus Platons Leben, 1861 (Preisschrift). – Grundriß der Geschichte der Philosophie, 1863-66; von der 4.-5. Auflage an bearbeitet von M. Heinze, 9. u. 10. A. 1905-09 (I. Bd., 10. A. von K. Prächter). – Über Idealismus, Realismus u. Idealrealismus, Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik, Bd. 34, 1859. – Vgl. F. A. LANGE, Fr. Ueb., 1871: Gesch. d. Materialismus II. – M. BRASCH, Die Welt- und Lebensanschauung Fr. Ueb.s in seinen gesammelten philos.-krit. Abhandlungen, 1889.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 772-774.
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